Sie waren zehn
standen an den beiden Särgen. Die tote Kellnerin wurde in einem anderen Bezirk beerdigt, wo ihr Vater am Grab in seinem unbezähmbaren Schmerz unflätig wurde, Plejin, den Geliebten seiner Tochter, einen Hurenkerl nannte und von Ljudmila nur als von der Mörderin sprach.
Langsam gingen Duskow, Petrowskij, Sepkin, Boranow und ihre Frauen an den offenen Särgen vorbei. Plejin lag auf den Kissen wie ein schlafender Junge, den Mund etwas verkrampft, mit einem trotzigen Lächeln. Man hatte ihm kein Kreuz zwischen die Finger geschoben, sondern eine einzelne Rose. Eine Rose, wie sie Ljudmila immer geliebt hatte.
Ljudmila Dragomirowna im Sarg – das Bild brannte sich in die Seele. War sie im Leben schon von unfaßbarer Schönheit gewesen, so hatte der Tod ihr Gesicht noch mehr verschönt. Die hohen Wangenknochen zeichneten sich unter der in einem zarten Olivton schimmernden Haut ab, die geschwungenen Lippen riefen auch noch aus der Todeskälte nach Sinnlichkeit und sternenweiter Leidenschaft. Und um dieses Antlitz in seiner entrückten Harmonie legte sich ihr Haar, Lackschwarz, eine seidene Wolke, deren Ränder sich im Wind bewegten, der über den Friedhof strich.
Sie gingen an Plejin und Ljudmila vorüber, legten Blumen auf ihre Körper, verhielten mit gefalteten Händen, sahen sie an und stießen an die Grenze ihres Verständnisses. Als die Särge geschlossen wurden, als man sie hinunterließ in das Doppelgrab und die Erdschollen auf die Deckel polterten, sagte Duskow in die Stille hinein:
»Und immer hat der Kleine davon geträumt, wieder nach Deutschland zu kommen. Er hat es mir oft gesagt.«
Es gab keine Totenfeier, wie es sonst in Rußland üblich ist. Sie gingen auf dem großen Friedhof spazieren, stellten sich in den Schatten einer Kastaniengruppe, blickten ab und zu hinüber zu dem frischen Grab. Die Totengräber hatten ihre Jacken ausgezogen und schaufelten. Ein schöner Herbsttag war es, ein bunter Tag für Bäume und Sträucher, die Natur verschwendete ihre Farben, ehe sie in der Kälte erstarrte. Herbst … In Sibirien sagt man ›Flammende Taiga‹.
»Du hast da vorhin etwas gesagt, Leonid Germanowitsch«, sagte Boranow. »Der Kleine hatte Heimweh, wollte nach Deutschland.«
Er legte den Arm um Lyra Pawlowna, schob ihn um ihre Hüfte und ließ seine Hand auf ihrem gewölbten Leib liegen. Sie sollte nicht erschrecken, sie sollte wissen, daß es nur sie gab in diesem kurzen Leben.
»Noch ist es nicht zu spät, darüber zu sprechen«, fuhr Boranow fort. »Nur eine Frage, liebe Brüder. Wir sollten darüber nachdenken, denn es bohrt in uns: Wollen wir nach Deutschland zurück?«
»Diese Frage habe ich befürchtet!« sagte Sepkin.
»Wir sind deutsche Offiziere …«
»Wir waren es. Jetzt sind wir etablierte Genossen!« Duskow griff in die Tasche, reichte Papyrossi herum, und sogar Anna Iwanowna rauchte eine, sog nervös den Rauch ein und stieß ihn mit kurzen Zügen wieder aus. »Anna hat den Antrag gestellt, mich in die Partei aufzunehmen. Eine Ehre ist das! Ich bin Anwärter, Genossen.«
»Und ich bin aufgestiegen aus der Unterwelt!« sagte Sepkin. »Weg vom Ofen I. Ich bin seit einer Woche Helfer im OP. Ich verbrenne keine amputierten Körperteile mehr – ich darf sie beim Abschneiden festhalten! Etliche Rubel bringt das mehr. Jelenaschka will sich einen Pelzmantel kaufen, auf dem schwarzen Markt. Ich habe schon ein gutes Angebot …«
»Mich hat man vorgeschlagen für eine Abteilungsleiterprüfung in der Traktoren-Endkontrolle.« Petrowskij strich Larissa Alexandrowna durch das blonde Haar. In ihrem fröhlichen Gesicht tummelten sich noch immer die Sommersprossen, Herbst und Winter kümmerten sie nicht. »Ich studiere schon die Nächte durch …« Er hob die Schultern, ein stummes Bitten um Verständnis. »Wie ist's mit dir, Kyrill Semjonowitsch?«
»Ich fahre jetzt die Linie 3.« Boranow blickte dem Rauch seiner Papyrossa nach, die andere Hand lag noch auf Lyras gewölbtem Leib. »In einem halben Jahr – man hat es mir fest versprochen – soll ich Kontrolleur werden. Seht euch mein Schwänchen an. In drei Monaten bekommt Lyranja unser erstes Kind …«
»Und da fragst du noch?« fragte Duskow.
»Vielleicht in einigen Jahren, Genossen?« Boranow zertrat die Zigarette, aber das war nicht symbolisch zu verstehen. »Die Welt ändert sich ständig … und wir auch! Kann es nicht sein, daß wir einmal zu uns sagen: Jungs, ich möchte Deutschland doch noch wiedersehen? Trotz allem, was geschehen
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