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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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er auf der Stelle seine Familie geholt und sie in den Sturmkeller gebracht. Ihre Stirn war zu weiß. Ihre Nasenflügel hoben und senkten sich regelmäßig wie die eines Tieres, das Feuer wittert. Ihre Hände hatten wieder angefangen, hektisch aufzuspringen und sich zu ballen, sie fingen Luft ein und zerquetschten sie.
    Die Tatsache, dass er sie so sehr brauchte und dass er so verwundbar war, schrie ihn an, damit aufzuhören und sie zu besänftigen, solange noch Zeit war - wenn überhaupt
noch Zeit war -, wie ein Stamm in einem Rider-Haggard-Roman seine Göttin besänftigt haben würde, wenn sie zornig war, indem er ihrem Abbild ein Opfer darbrachte.
    Aber es gab noch einen anderen Teil in ihm, berechnender und nicht so feige, der ihn daran erinnerte, dass er nicht Scheherazade spielen konnte, wenn er jedes Mal, wenn sie so kochte, ängstlich und unterwürfig wurde. Wenn er das tat, würde sie nur umso mehr kochen. Wenn du nicht etwas hättest, was sie über alle Maßen begehrt, überlegte dieser Teil von ihm, hätte sie dich unverzüglich ins Krankenhaus gebracht oder dich später getötet, um sich vor den Roydmans zu schützen - denn für Annie ist die Welt voll von Roydmans, für Annie lauern sie hinter jedem Gebüsch. Und wenn du dieses Miststück jetzt nicht in die Schranken weist, Paulie, dann wirst du es nie mehr können.
    Sie begann schneller zu atmen, beinahe zu hyperventilieren; auch der Rhythmus ihrer sich ballenden Hände wurde schneller, und er wusste, in wenigen Augenblicken würde sie völlig außer Kontrolle sein.
    Er nahm daher allen Mut zusammen, den er noch besaß, und bemühte sich um exakt den richtigen Tonfall aus scharfer und doch fast beiläufiger Gereiztheit, als er sagte: »Sie können getrost damit aufhören. Wütend zu werden wird nicht das Geringste ändern.«
    Sie erstarrte, als hätte er sie geschlagen, und sah ihn verletzt an.
    »Annie«, sagte er, »das ist keine große Sache.«
    »Es ist ein Trick«, sagte sie. »Sie wollen mein Buch nicht schreiben, und daher denken Sie sich Tricks aus, damit Sie nicht anfangen müssen. Das habe ich genau gewusst. O ja. Aber es wird Ihnen nichts nutzen. Es …«

    »Das ist dummes Zeug«, sagte er. »Habe ich gesagt, dass ich nicht anfangen werde?«
    »Nein … nein, aber …«
    »Sehen Sie. Ich werde es nämlich tun. Und wenn Sie mal herkommen und es sich ansehen, dann werde ich Ihnen zeigen, was das Problem ist. Bringen Sie bitte diesen Webster-Becher mit.«
    »Den was?«
    »Den kleinen Becher mit Kugelschreibern und Bleistiften«, sagte er. »Bei Zeitungen werden sie manchmal als Webster-Becher bezeichnet. Nach Daniel Webster.« Das war eine Lüge, die er sich ganz spontan ausgedacht hatte, aber es hatte den beabsichtigten Effekt - sie sah verwirrter denn je drein und fühlte sich offensichtlich in der Welt eines Spezialisten verloren, von der sie nicht die leiseste Ahnung hatte. Die Verwirrung hatte ihrer Wut die Heftigkeit (und damit den Zündstoff) genommen; er sah jetzt, dass sie sich nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt das Recht hatte, wütend zu sein.
    Sie brachte den Becher mit den Stiften und knallte ihn auf das Brett, und er dachte: Gottverflucht! Ich habe gewonnen! Nein - das stimmte nicht. Misery hatte gewonnen.
    Aber das ist auch nicht ganz richtig. Es war Scheherazade. Scheherazade hat gewonnen.
    »Was«, sagte sie mürrisch.
    »Sehen Sie her.«
    Er riss die Packung Corrasable auf und holte ein Blatt heraus. Er griff nach einem frisch gespitzten Bleistift und zog eine Linie auf dem Papier. Dann nahm er einen Kugelschreiber und zog darunter eine zweite Linie. Dann strich er mit dem Daumen über die leicht strukturierte Oberfläche
des Papiers. Beide Linien verschmierten in die Richtung seiner Daumenbewegung, die Bleistiftlinie etwas mehr als die, die er mit Kugelschreiber gezogen hatte.
    »Sehen Sie?«
    »Na und?«
    »Die Tinte des Farbbandes wird genauso verschmieren«, sagte er. »Nicht ganz so schlimm wie die Bleistiftlinie, aber schlimmer als die des Kugelschreibers.«
    »Haben Sie vor, über jede Seite mit dem Daumen zu rubbeln?«
    »Das Zusammenschieben der Blätter über einige Wochen oder sogar Tage wird ausreichen, um die Buchstaben hinreichend zu verschmieren«, sagte er, »und wenn ein Manuskript in Arbeit ist, dann wird häufig darin geblättert. Man muss immer irgendwo nachlesen, um einen Namen oder ein Datum zu suchen. Mein Gott, Annie, das Erste, was man in diesem Geschäft herausfindet, ist die Tatsache, dass

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