Sie
betrachtete das beiliegende Foto fasziniert. Annie in Haft. Großer Gott, Annie in Haft; die Göttin nicht gestürzt, aber wankend … wankend …
Sie ging in Begleitung einer kräftigen Polizistin eine Treppe hinauf, ihr Gesicht leer und ausdruckslos. Sie trug ihre Schwesterntracht und weiße Schuhe.
Nächste Seite: WILKES AUF FREIEM FUSS - KEIN WORT BEIM VERHÖR.
Sie war davongekommen. Irgendwie war sie davongekommen. Es wurde Zeit für sie, zu verduften und sich anderswo niederzulassen - Idaho, Utah, Kalifornien vielleicht. Stattdessen ging sie wieder zur Arbeit. Und anstatt einer NEUZUGÄNGE-Meldung von irgendwo weiter westlich sah er eine riesige Schlagzeile aus den Rocky Mountain News vom 2. Juli 1982:
Der Schrecken geht weiter:
DREI WEITERE SÄUGLINGE STERBEN
IM HOSPITAL VON BOULDER
Zwei Tage später nahmen die Behörden einen puerto-ricanischen Pfleger fest, den sie neun Stunden später wieder freiließen. Dann, am 19. Juli, meldeten die Denver Post und die Rocky Mountain News beide Annies Festnahme. Anfang August fand eine kurze Vorverhandlung statt. Am 9. September stand sie wegen Mordes an einem einen Tag alten Mädchen mit Nachnamen Christopher vor Gericht. Nach dem Christopher-Mädchen kamen sieben weitere Mordfälle. Der Artikel betonte, dass einige von Annies mutmaßlichen Opfern sogar schon so alt gewesen waren, dass sie richtige Namen bekommen hatten.
Zwischen den Artikeln über die Verhandlung befanden sich Leserbriefe aus den Zeitungen von Boulder und Denver.
Paul wurde klar, dass Annie lediglich die feindseligsten ausgeschnitten hatte - diejenigen, die ihren verbitterten Standpunkt betonten, demzufolge der Mensch ein Homo balgus war -, aber sie waren durchaus vielseitig in ihren Schmähungen. In einem jedoch schien Einigkeit zu herrschen: Hängen war noch zu gut für Annie Wilkes. Ein Berichterstatter taufte sie die Drachenlady; dieser Name haftete ihr während der ganzen Verhandlung an. Die meisten schienen der Meinung zu sein, dass man die Drachenlady mit glühenden Mistgabeln zu Tode stechen sollte, und die meisten deuteten weiter an, dass sie sich herzlich gern freiwillig zu dieser Tätigkeit melden würden.
Neben einen solchen Brief hatte Annie in einer zittrigen und irgendwie kläglichen Handschrift, die so gar nicht ihrer sonstigen sehr bestimmten Schrift glich, geschrieben: Stöcke Steine werden meine Knochen brechen Worte können mich nicht verletzen.
Es war offensichtlich, dass Annies großer Fehler gewesen war, nicht aufzuhören, als den Leuten allmählich klar wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Das war ein schlimmer Fehler, aber unglücklicherweise nicht schlimm genug. Die Göttin wankte nur. Die Anklage beruhte lediglich auf Indizien und war stellenweise so dünn, dass man durch sie eine Zeitung lesen konnte. Der Staatsanwalt am Bezirksgericht hatte einen Handabdruck auf dem Gesicht und Hals des Christopher-Mädchens, zu dem Annies Hand passte, komplett mit dem Abdruck des Amethystrings, den sie am Ringfinger der rechten Hand trug. Der Staatsanwalt hatte außerdem eine Liste mit ihren Aufenthaltszeiten in der Säuglingsstation, die grob mit den Todesdaten übereinstimmten. Aber immerhin war Annie die Oberschwester,
daher kam und ging sie ständig. Die Verteidigung konnte Dutzende Fälle anführen, in denen Annie die Station betreten hatte und nichts Ungewöhnliches geschehen war. Paul war der Meinung, genauso könnte man argumentieren, dass niemals Meteore auf der Erde einschlugen, indem man fünf Tage als Beweis heranzog, an denen kein einziger auf den Nordfeldern von Bauer John niedergegangen war; aber er begriff dennoch den Eindruck, den diese Ausführungen bei den Geschworenen hinterlassen haben mussten.
Die Anklage versuchte, ihr Netz so gut es ging zu knüpfen, aber der Handabdruck mit dem Ring war im Grunde genommen der einzige handfeste Beweis, den sie vorweisen konnte. Die Tatsache, dass der Staat Colorado überhaupt beschlossen hatte, Annie unter Anklage zu stellen, wenngleich die Chance einer Verurteilung aufgrund der Indizien so gering war, erfüllte Paul mit einer Vermutung und einer Gewissheit. Die Vermutung war, dass Annie während ihrer ersten Vernehmung Aussagen gemacht hatte, die extrem deutlich, vielleicht sogar belastend gewesen waren; ihrem Verteidiger war es gelungen, die Protokolle dieses Verhörs aus der Hauptverhandlung herauszuhalten. Die Gewissheit war, dass Annies Entscheidung, bei der Vorverhandlung für sich selbst auszusagen,
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