Sie
außerordentlich unklug gewesen war. Diese Aussage nämlich hatte der Verteidiger nicht unterdrücken können (wenngleich er sich bei dem Versuch beinahe entzweigerissen hatte), und obschon Annie in den drei Tagen im August, die sie »oben in Denver im Zeugenstand« verbracht hatte, kein Wort gestanden hatte, hatte sie seiner Meinung nach eigentlich alles zugegeben.
Auszüge aus den Protokollen, die sie in ihr Buch eingeklebt hatte, enthielten ein paar echte Juwelen:
Ob sie mich traurig stimmten? Selbstverständlich stimmten sie mich traurig, wenn man bedenkt, in was für einer Welt wir leben.
Ich habe nichts, dessen ich mich schämen müsste. Ich schäme mich niemals. Was ich tue, das ist endgültig, ich blicke niemals auf so etwas zurück.
Ob ich die Beerdigung von einem von ihnen besucht habe? Selbstverständlich nicht. Ich finde Beerdigungen düster und deprimierend. Außerdem glaube ich nicht, dass Babys eine Seele haben.
Nein, ich weine niemals.
Ob es mir leidtat? Ich schätze, das ist eine philosophische Frage, oder nicht?
Selbstverständlich verstehe ich die Frage. Ich verstehe alle Ihre Fragen. Ich weiß, dass Sie alle es auf mich abgesehen haben.
Wenn sie bei der Hauptverhandlung darauf bestanden hätte, für sich selbst auszusagen, dachte Paul, dann hätte ihr Verteidiger sie wahrscheinlich erschossen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Der Fall kam am 13. Dezember 1982 vor die Geschworenen. Er sah ein erstaunliches Foto aus den Rocky Mountain
News , ein Foto von Annie, die ruhig in der Untersuchungszelle saß und Miserys Suche las. IN DER MISERE?, fragte die Bildunterschrift. NICHT DIE DRACHENLADY. Annie liest gelassen, während sie auf das Urteil wartet.
Und dann, am 16. Dezember, die großen Schlagzeilen: DRACHENLADY UNSCHULDIG. In dem Artikel wurde einer der Geschworenen, der anonym bleiben wollte, zitiert: »Ich habe große Zweifel, was ihre Unschuld anbelangt, ja. Unglücklicherweise habe ich auch Zweifel, was ihre Schuld betrifft. Ich hoffe, sie wird wegen einem der anderen Fälle nochmals angeklagt. Vielleicht kann die Anklage dort stichhaltigere Beweise vorlegen.«
Alle wussten, dass sie es getan hat, aber niemand konnte es beweisen. Und so ist sie ihnen durch die Finger geschlüpft.
Auf den folgenden drei oder vier Seiten wurde der Fall weiter behandelt. Der Staatsanwalt sagte, Annie würde ganz sicher in einem der anderen Fälle angeklagt werden. Drei Wochen später sagte er, das habe er nie gesagt. Anfang Februar 1983 gab das Büro des Staatsanwalts eine Presseerklärung ab, wonach der Fall der Kindermorde im Hospital von Boulder weiter verfolgt würde, der Fall gegen Annie Wilkes jedoch abgeschlossen war.
Durch die Finger geschlüpft.
Ihr Mann hat weder für die eine noch für die andere Seite ausgesagt. Ich frage mich, was der Grund dafür war?
Das Buch hatte noch mehr Seiten, aber er erkannte daran, wie dicht die meisten aufeinanderlagen, dass er schon fast am Ende von Annies bisheriger Geschichte angekommen war. Gott sei Dank.
Die nächste Seite war aus der Sidewinder Gazette vom 19. November 1984. Wanderer hatten die verstümmelte und teilweise zerstückelte Leiche eines jungen Mannes im östlichen Teil des Grider-Wildlife-Reservats gefunden. In der Zeitung der folgenden Woche wurde er als Andrew Pomeroy identifiziert, dreiundzwanzig Jahre alt, aus Cold Stream Harbor, New York. Pomeroy war im September des Vorjahres von New York aufgebrochen, um per Anhalter nach L.A. zu reisen. Am 15. Oktober hatten seine Eltern zum letzten Mal von ihm gehört. Er hatte ein R-Gespräch aus Julesburg mit ihnen geführt. Die Leiche war in einem ausgetrockneten Bachbett gefunden worden. Die Polizei vermutete, dass der Junge möglicherweise am Highway 9 ermordet und während des Tauwetters im Frühling in das Naturschutzgebiet gespült worden war. Der Gerichtsmediziner sagte, die Wunden seien ihm mit einer Axt zugefügt worden.
Paul überlegte, nicht ganz ohne Grund, wie weit das Grider-Wildlife-Reservat von hier entfernt war.
Er blätterte die Seite um und sah den letzten Zeitungsausschnitt - jedenfalls bisher -, und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Es war, als wäre er, nachdem er grimmig durch den fast unerträglichen Nekrolog der vorhergehenden Seiten gewatet war, nun auf seine eigene Todesanzeige gestoßen. Nicht ganz, aber …
»Aber nahe genug für den ersten Versuch«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme.
Es war aus dem Newsweek . In der Spalte
Weitere Kostenlose Bücher