Sie
Wahrscheinlich sagte er nur: »Lasst mich bloß hier raus!«
»Vielleicht hat er die tote Katze auf der Treppe gesehen«, sagte Paul.
Nächste Seite. Wieder ein NEUZUGÄNGE-Artikel. Dieser aus der Camera in Boulder, Colorado. Auf dem Rasen des Hospitals von Boulder standen ein Dutzend neue Belegschaftsmitglieder.
Annie stand in der zweiten Reihe, ihr Gesicht war ein blasser weißer Kreis unter der Haube mit dem schwarzen Streifen. Die Eröffnung einer weiteren Vorstellung. Das Datum darunter war der 9. März 1981. Sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen.
Boulder. Das war dort, wo Annie wirklich übergeschnappt war.
Er blätterte die Seiten immer schneller um, sein Entsetzen wuchs, die beiden Gedanken, die sich immer wiederholten, waren: Warum, in Gottes Namen, haben sie nicht eher einen Verdacht gehabt? und Wie, in Gottes Namen, ist sie immer wieder davongekommen?
10. März 1981 - lange Krankheit. 14. Mai 1981 - lange Krankheit. 23. Mai - lange Krankheit. 9. Juni - kurze Krankheit. 15. Juni - kurz. 16. Juni - lang.
Kurz. Lang. Lang. Kurz. Lang. Lang. Kurz.
Die Seiten stotterten ihm durch die Finger. Er nahm den leichten Geruch trockenen Papierleims wahr.
»Gütiger Himmel, wie viele hat sie umgebracht?«
Wenn es stimmte, dass jede Todesanzeige in diesem Buch einem Mord entsprach, dann hatte sie bis Ende 1981 mehr als dreißig Menschen auf dem Gewissen … und alles ohne ein einziges Mucken seitens der Behörden. Selbstverständlich waren die meisten Opfer alt, die anderen schwer verletzt, aber dennoch … man sollte meinen …
1982 war Annie dann schließlich gestrauchelt. Der Ausschnitt aus der Camera vom 14. Januar zeigte ihr leeres, steinernes Gesicht als Rasterbild unter folgender Schlagzeile: NEUE OBERSCHWESTER DER SÄUGLINGSSTATION. So weit, so gut.
Am 29. Januar hatten die Todesfälle auf der Säuglingsstation begonnen.
Annie hatte die ganze Geschichte in ihrer fein säuberlichen Art notiert. Paul hatte keine Mühe, ihr zu folgen. Wenn die Leute, die dir ans Leder wollen, dieses Buch gefunden hätten, Annie, dann wärst du jetzt im Gefängnis - oder im Irrenhaus -, und zwar bis ans Ende aller Tage.
Die ersten beiden Todesfälle unter den Säuglingen hatten keinen Verdacht erweckt - der Artikel über den ersten sprach von schweren Geburtsschäden. Aber Babys, mit Geburtsschäden oder ohne, waren keine alten Tattergreise, die an Nierenversagen starben, oder Unfallopfer, die gerade noch lebend eingeliefert wurden, trotz nur noch halb vorhandener Köpfe oder lenkradgroßer Löcher in den Eingeweiden. Und dann hatte sie angefangen, die gesunden wie die kranken umzubringen. Er vermutete, dass sie, während sie immer tiefer in die Psychose abglitt, begonnen hatte, sie alle als arme, arme Geschöpfe zu sehen.
Mitte März 1982 hatte es fünf Todesfälle in der Säuglingsstation des Hospitals von Boulder gegeben. Ermittlungen wurden eingeleitet. Am 24. März nannte die Camera als möglichen Missetäter »verunreinigte Säuglingsnahrung«. Eine »zuverlässige Quelle im Krankenhaus« wurde zitiert, und Paul fragte sich, ob die Quelle nicht möglicherweise Annie Wilkes selbst gewesen war.
Im April war ein weiteres Baby gestorben. Zwei im Mai.
Dann, die Titelseite der Denver Post vom 1. Juni:
OBERSCHWESTER DER SÄUGLINGSSTATION ZUM TOD DER SÄUGLINGE VERHÖRT
»Bis jetzt« noch keine Anklage erhoben,
sagt die Sprecherin der Polizeistelle
Von Michael Leith
Annie Wilkes, die neununddreißigjährige Oberschwester der Säuglingsstation des Hospitals von Boulder, wurde heute hinsichtlich des Todes von acht Säuglingen verhört - Sterbefälle, die im Verlauf mehrerer Monate auftraten. Alle Todesfälle fanden nach Miss Wilkes’ Anstellung statt.
Auf die Frage, ob Miss Wilkes festgenommen wurde, sagte Tamara Kinsolving, die Pressesprecherin der Polizeistelle, dies sei nicht geschehen. Auf die Frage, ob Miss Wilkes aus freien Stücken gekommen war, um Informationen zu dem Fall zu geben, antwortete Mrs. Kinsolving: »Ich würde sagen, das war nicht der Fall. Die Lage ist etwas ernster.« Gefragt, ob Wilkes eines Verbrechens angeklagt worden sei, antwortete Mrs. Kinsolving: »Nein, noch nicht.«
Der Rest des Artikels war ein Abriss von Annies Laufbahn. Es war offensichtlich, dass sie häufig umgezogen war, aber nirgends wurde erwähnt, dass die Patienten aller Krankenhäuser, in denen sie gearbeitet hatte - nicht nur in Boulder -, besonders leicht ins Gras bissen, wenn sie in der Nähe war.
Er
Weitere Kostenlose Bücher