Sie
Haus tobten. Das Muster war unausweichlich. Sie suchte sich einen Job, brachte ein paar Menschen um und zog weiter.
Plötzlich fiel ihm eine Szene aus einem Traum ein, den der bewusste Teil seines Verstandes längst vergessen hatte und der damit das orakelhafte Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses annahm. Er sah Annie Wilkes in einem langen Schürzenkleid, eine Haube auf dem Kopf, eine Annie, die wie eine Schwester im Londoner Bedlam-Hospital aussah. In einem Arm hielt sie einen Korb. Sie griff hinein. Nahm Sand heraus und schleuderte ihn in die ihr zugewandten Gesichter, an denen sie vorbeiging. Aber dies war nicht der wohltuende Sand des Schlafes, sondern giftiger Sand. Er tötete sie. Wenn er sie berührte, wurden ihre Gesichter weiß, und die Monitore der Maschinen, die ihr flüchtiges Leben überwachten, zeigten eine Nulllinie.
Vielleicht hat sie die Krenmitz-Kinder umgebracht, weil sie Bälger waren … und ihre Zimmerkameradin … vielleicht sogar ihren eigenen Vater. Aber diese anderen?
Dennoch wusste er es. Die Annie in ihm wusste es. Alt und krank. Sie alle waren alt und krank gewesen, abgesehen von Mrs. Simeaux, und als die eingeliefert wurde, war sie ganz sicher kaum noch ein Mensch gewesen. Mrs. Simeaux und das Kind, das in den Brunnen gefallen war. Annie hatte sie umgebracht, weil …
»Weil sie Ratten in der Falle waren«, flüsterte er.
Arme Geschöpfe. Arme, arme Geschöpfe.
Klar. Das war es. In Annies Denkweise untergliederten sich alle Menschen auf der Welt in drei Gruppen: Bälger, arme, arme Geschöpfe … und Annie.
Sie war kontinuierlich westwärts gezogen. Von Harrisburg nach Pittsburgh, nach Duluth, nach Fargo. Dann, 1978, nach Denver. In jedem Fall war das Muster dasselbe: Ein »Willkommen an Bord«-Artikel, in dem Annies Name erwähnt wurde (das »Willkommen an Bord« in Manchester hatte sie wahrscheinlich deshalb verpasst, weil sie nicht wusste, dass die lokale Zeitung solche Artikel brachte, wie Paul vermutete), dann zwei oder drei unauffällige Todesfälle. Danach begann der Zyklus von Neuem.
Bis Denver.
Anfangs schien das Muster wieder dasselbe zu sein. Er fand den NEUZUGÄNGE-Artikel, dieses Mal aus dem hausinternen Mitteilungsblatt des Hospitals von Denver ausgeschnitten, in dem auch Annies Name erwähnt wurde. Ihrer ordentlichen Handschrift konnte er entnehmen, dass die Krankenhauszeitung Die Trage hieß. »Großartiger Name für eine Krankenhauszeitung«, sagte Paul zu dem leeren Zimmer. »Es überrascht mich, dass niemand darauf gekommen ist, sie Die Stuhlprobe zu nennen.« Er wieherte erneut sein ängstliches Lachen hinaus, ohne es zu bemerken. Er blätterte um und fand die erste Todesanzeige aus den Rocky Mountain News . Laura D. Rothberg. Lange Krankheit. 21. September 1978. Hospital von Denver.
Aber dann brach das Muster vollkommen auseinander.
Die nächste Seite verkündete keinen Todesfall, sondern eine Hochzeit. Das Foto zeigte Annie nicht in ihrer Schwesternkluft, sondern in einem weißen, spitzenbesetzten Kleid. Neben ihr, ihre Hand in seiner, stand ein Mann namens Ralph Dugan. Dugan war Physiotherapeut. DUGAN-WILKES-HOCHZEIT lautete die Überschrift des Zeitungsausschnitts. Rocky Mountain News , 2. Januar 1979. Dugan
war eine recht unbeachtliche Erscheinung, abgesehen von einem: Er sah wie Annies Vater aus. Wenn man Dugans Schnurrbart abrasierte - was sie wahrscheinlich gleich nach Ende der Flitterwochen von ihm verlangt hatte -, war die Ähnlichkeit wirklich bemerkenswert.
Paul blätterte mit dem Daumen die verbleibenden Seiten von Annies Buch durch und dachte, Ralph Dugan hätte sein Horoskop - ups , sollte Horrorskop heißen - besser durchlesen sollen, als er Annie seinen Heiratsantrag machte.
Ich glaube, es ist sehr gut möglich, dass ich irgendwo in diesen verbleibenden Seiten einen kurzen Artikel über dich finden werde. Manche Leute haben eine Verabredung in Samarra; ich glaube, du könntest eine mit einem Bündel Wäsche oder einer toten Katze auf der Treppe gehabt haben. Einer toten Katze mit einem hübschen Namen.
Aber er irrte sich. Der nächste Zeitungsausschnitt war ein NEUZUGÄNGE-Artikel aus der Zeitung von Nederland. Nederland war ein kleiner Ort westlich von Boulder. Nicht zu weit von hier entfernt, schätzte Paul. Einen Augenblick konnte er Annie in der kurzen Mitteilung voller Namen nicht finden, dann wurde ihm klar, dass er nach dem falschen Namen suchte. Sie war da, aber sie war Teil einer sozialgeschlechtlichen Gemeinschaft mit Namen
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