Sie
jeden Nachmittag ein Schläfchen. Die Geschichte von Misery und ihrer Amnesie und ihrer bisher unbekannten (und ganz besonders verkommenen) Blutsverwandten machte gute Fortschritte und strebte unaufhaltsam in Richtung Afrika, wo der zweite Teil des Romans spielen sollte. Die Ironie war: Diese Frau hatte ihn gezwungen, den Roman zu schreiben, der das bislang allerbeste der Misery -Bücher war. Ian und Geoffrey befanden sich in Southampton und machten einen Schoner namens Lorelei zum Auslaufen fertig. Auf dem Schwarzen Kontinent würde Misery, die in den unmöglichsten Augenblicken in kataleptische Trance verfiel (und die selbstverständlich auf der Stelle sterben würde, sollte sie jemals in ihrem Leben wieder von einer Biene gestochen werden), entweder getötet oder geheilt werden. Denn hundertfünfzig Meilen landeinwärts von Lawston, einer kleinen britisch-holländischen Siedlung am nördlichsten Punkt der zerklüfteten Berberküste, lebten die Bourkas, die gefährlichsten Eingeborenen Afrikas. Die Bourkas wurden manchmal als die Bienenmenschen bezeichnet. Wenige Weiße, die sich auf das Gebiet der Bourkas vorwagten, waren jemals zurückgekehrt, aber diese wenigen brachten Geschichten von einem Frauenantlitz mit, welches aus
einem hohen, rissigen Tafelberg herausragte, ein gnadenloses Gesicht mit offenem Mund und einem riesigen Rubin in der Felsenstirn. Es gab eine weitere Geschichte - sicher nur ein Gerücht, aber seltsam beständig -, dass in den Höhlen hinter der rubinbesetzten Stirn des Götzenbildes ein Stamm riesiger Albinobienen hauste, die ihre Königin schützend umschwärmten, eine gallertartige Monstrosität von grenzenloser Giftigkeit … und grenzenlosem Zauber.
Am Tage lenkte er sich mit dieser herrlichen Albernheit ab. Am Abend saß er schweigend am Fenster, hörte zu, wie das Schwein quiekte, und dachte darüber nach, wie er die Drachenlady umbringen würde.
Im wirklichen Leben Kannst du? zu spielen war etwas ganz anderes, als es in einem Kreis von Kindern oder als Erwachsener vor einer Schreibmaschine zu tun, stellte er fest. Wenn es sich nur um ein Spiel handelte (und selbst wenn sie einem Geld dafür gaben, so war und blieb es doch ein Spiel), konnte man sich einige recht ausgefallene Sachen ausdenken und sie plausibel machen - die Verbindung zwischen Misery Chastain und Miss Charlotte Evelyn-Hyde, zum Beispiel (sie hatten sich als Halbschwestern entpuppt, Misery würde später ihren Vater in Afrika bei den Bourkas, diesen Bienenmenschen, finden). Im wirklichen Leben jedoch hatte das Geheimnisvolle die Neigung, seine Macht zu verlieren.
Nicht dass Paul es nicht versucht hätte. Im unteren Bad befanden sich all diese Tabletten - es gab doch sicher einen Weg, wie er sie mit ihrer Hilfe unschädlich machen konnte? Oder zumindest für so lange hilflos, damit er das erledigen konnte? Das Novril, zum Beispiel. Genügend davon, und
er würde sie gar nicht mehr aus dem Weg schaffen müssen. Sie würde von ganz allein davonschweben.
Das ist eine ausgezeichnete Idee, Paul. Ich sage dir, was du tun musst. Du nimmst einfach eine Menge dieser Kapseln und steckst sie in eine ihrer Eisportionen. Sie wird sie für Pistazien halten und arglos hinunterschlingen.
Nein, das würde selbstverständlich nicht funktionieren. Er konnte sie auch nicht öffnen und das Pulver ins Eis mischen. Das pure Novril war bitter wie Galle. Er hatte es gekostet und wusste darum. Sie würde den Geschmack sofort in der Süße des Eises erkennen … Und dann wehe dir, Paulie. Wehe dir.
In einer Geschichte wäre es ein hervorragender Einfall gewesen. Im wirklichen Leben jedoch funktionierte es einfach nicht. Er war sich nicht sicher, ob er das Risiko eingegangen wäre, selbst wenn das weiße Pulver in den Kapseln vollkommen geschmacksneutral gewesen wäre. Es war sich nicht sicher genug, es war nicht zuverlässig genug. Dies war kein Spiel; hier ging es um sein Leben.
Andere Einfälle gingen ihm durch den Kopf und wurden fast ebenso schnell wieder verworfen. Einer davon war, etwas über der Tür zu befestigen (die Schreibmaschine fiel ihm sofort ein), das herunterfallen und sie töten oder bewusstlos schlagen würde, wenn sie hereinkam. Ein anderer war, einen Stolperdraht über die Treppe zu spannen. Aber das Problem war dasselbe wie beim alten Novril-im-Eis-Trick: Es war nicht zuverlässig genug. Es war ihm buchstäblich unmöglich, sich vorzustellen, was mit ihm passieren würde, wenn er sie zu ermorden versuchte und dabei
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