Sieben Siegel 03 - Die Katakomben des Damiano
und tätschelte sie aufmunternd. Sie wusste nicht, was sie darauf hätte erwidern können. Lisa hatte natürlich Recht. Manchmal ging Kyra tatsächlich unnötige Risiken ein. Aber es war eine Sache, das zu wissen, und eine ganz andere, es zuzugeben. Vor allem, wenn man sich alle Mühe gab, seiner Mutter nachzueifern – und diese Mutter dummerweise die gefürchtetste Dämonenjägerin seit Jahrhunderten gewesen war.
Sie standen eine Weile lang schweigend im Dunkeln und warteten auf die Rückkehr der Jungen. Besser, sie entschieden zu viert, was sie als Nächstes tun würden. Bei aller Sorge um Doktor Richardson würde es Kyras Vater gewiss nicht recht sein, wenn die Kinder allein ins Untergeschoss der Katakomben stiegen.
Lisa öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als ein gellender Schrei ertönte.
Der Schrei einer Frau!
Er kam von unten, aus der Tiefe des Kellers.
Lisa versteifte sich wie einer von Damianos Wasserspeiern.
»War das –?«
Kyra nickte abgehackt. Eiskaltes Grauen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Doktor Richardson!«
»Dann ist sie wirklich … da unten?«
Darauf bedurfte es keiner Antwort. Kyra überwand sich und schob die Leiter über die Kante der Öffnung.
Lisa zitterte am ganzen Leib. »Vielleicht haben wir uns getäuscht«, flüsterte sie kleinlaut.
Die Frau kreischte zum zweiten Mal – dann brach ihr Schrei abrupt ab.
Totenstille wehte aus dem Loch empor.
»Sie ist …«, stammelte Lisa.
»Sag’s nicht«, erwiderte Kyra. »Wir müssen nachsehen.«
»Und die anderen?«
»Bis die zurück sind, ist es vielleicht zu spät.«
Das Leiterende stieß in der Tiefe auf Widerstand. Kyra rüttelte prüfend daran, dann nickte sie. »Ich gehe zuerst.«
Lisa blieb stumm. Angstvoll sah sie zu, wie ihre Freundin die oberen Sprossen hinabstieg, ein letztes Mal zu ihr aufschaute und schließlich in der Öffnung verschwand.
Mit ihr verschwand das Licht der Taschenlampe.
Lisa stand plötzlich allein in völliger Dunkelheit.
Schweren Herzens gab sie sich einen Ruck. Dann setzte sie den ersten Fuß auf die Leiter und folgte Kyra in den Abgrund.
Die Schläfer erwachen
»Kommt es mir nur so vor, oder ist es hier unten jetzt wärmer als oben?«, wisperte Lisa, als sie das Ende der Leiter erreichte und auf festen Boden trat.
Kyra hatte ihr den Rücken zugewandt. Sie ließ den Strahl der Taschenlampe voraus in die Finsternis züngeln.
»Wärmer«, wiederholte sie nachdenklich. »Ja, scheint fast so, oder?«
Lisa nickte. Was sie spürte, war jedoch keine angenehme Wärme. Sie fand es eher feucht und stickig. Fast wie in einem Raubtierhaus im Zoo.
Raubtierhaus …
Das war kein Gedanke, der ihr in diesem Moment allzu großen Mut machte. Nein, absolut nicht.
Auch hier unten lag ein feiner Dunst in der Luft – hätte es hier Fensterscheiben gegeben, wären sie wohl beschlagen. Der Lichtstrahl der Taschenlampe sah aus wie ein Laserschwert aus einem Star-Wars-Film. Lisa hätte in diesem Augenblick eine Menge dafür gegeben, eine Waffe zu besitzen. Genau genommen hätte es auch schon ein Knüppel getan. Irgendetwas, das ihr das Gefühl gab, nicht gar so schutzlos zu sein.
Kyra ging voraus. Wie Chris gemutmaßt hatte, verlief ein Gang von der Öffnung aus nach Norden. Er war nur wenige Meter lang, dann öffnete er sich zu einem tiefer gelegenen Raum. Ein halbes Dutzend Stufen führte nach unten.
»Was ist denn das?«, entfuhr es Kyra. Sie ließ den Schein der Lampe viel zu hastig umherirren, um mehr als vage Schemen der Umgebung zu erkennen.
»Halt das Licht still«, zischte Lisa ihr zu. »Und sei, um Himmels willen, nicht so laut.«
Der Lichtstrahl verharrte – und fiel geradewegs auf eine scheußliche Fratze!
Beide Mädchen schrien auf.
Aus einem breiten Maul ragten messerscharfe Zahnreihen. Schmale Augen starrten verschlagen aus den Schatten einer wulstigen Stirn. Die Haut war pockennarbig, fast porös. Beinahe wie Stein.
Lisa und Kyra atmeten auf. Es war Stein.
Sie hatten Damianos unterirdische Werkstatt entdeckt.
Vor ihnen stand einer der Wasserspeier des Bildhauers. Ein Gargoyle. Bei genauerer Betrachtung sahen sie, dass nur der Kopf vollendet war. Der restliche Körper war kaum mehr als ein grob behauener Felsklotz.
Es gab noch mehr dieser halb fertigen schöpfe. Sie standen überall, neben halb verfallenen Regalen und Tischen, auf steinernen Podesten und zu beiden Seiten des Eingangs. Hier und da konnte man unter Bergen von Staub und Schimmel alte Werkzeuge des
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