Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
höchsten Stelle der Umgebung, hätte sie den Mann im Mond sehen müssen. Doch ausgerechnet in diesem Moment legte sich ein Wolkenfetzen über den Vollmond, ein Vorbote des heraufziehenden Gewitters. Von einer Sekunde zur anderen wurde die Landschaft in Finsternis getaucht. Hügel, Wiesen und Weißdornhecken versanken in einem Meer aus Schwärze.
»Weiter!«, kommandierte Kyra in einem Ton, der keinem der anderen gefiel.
Zum Erstaunen aller war es ausgerechnet Chris, der stehen blieb und Kyra an der Schulter festhielt. »Warte«, sagte er. »Würdest du uns wohl erst mal erklären, was du überhaupt vorhast?«
Kyra streifte seine Hand ab. »Dazu ist jetzt keine Zeit. Er ist irgendwo da unten. Er wird uns einholen, wenn wir nicht weiterlaufen!« Sie deutete in den schwarzen Abgrund, in den sich das Land südlich des Bahndamms verwandelt hatte. Sogar die Lichter Giebelsteins waren blass wie ferne Sternbilder.
»Es hat doch keinen Zweck, wenn wir uns im Hügelgrab verstecken«, sagte Lisa mit flehendem Unterton. »Er wird uns so oder so finden.«
Nils nickte. »Er ist vielleicht langsam, aber ganz bestimmt nicht blind.«
Kyras Blick fuhr finster über die Gesichter ihrer Freunde, dann drehte sie sich einfach um und stürmte die nördliche Böschung hinunter.
»Kommt mit, oder bleibt stehen. Ganz wie ihr wollt.«
Lisa starrte ihr fassungslos hinterher. »Sie ist gar nicht mehr sie selbst, wenn sie sich so aufführt.«
Chris stimmte zu. »Sie wird wie ihre Mutter.«
»Zumindest gibt sie sich alle Mühe, wie sie zu sein«, knurrte Nils.
»Trotzdem hat sie Recht«, meinte Lisa schließlich und überwand ihren Schrecken über Kyras Verhalten. »Wir müssen weiter. Früher oder später wird der Mann im Mond hier auftauchen.«
Chris und Nils schlossen sich ihr an, und gemeinsam folgten sie der Schneise, durch die Kyra im Dunkeln verschwunden war. Es blitzte wieder, und der Donner folgte schon nach wenigen Sekunden. Die Wolke vor dem Mond zog weiter, und erneut wurde die Landschaft in weißes Licht getaucht. Die Gewitterfront, die sich von Osten näherte, war jetzt deutlich zu erkennen. Über dem Horizont flimmerte der Nachthimmel in unheilvollen Violetttönen.
Kyra war etwa zehn Meter vor ihnen. Als sie sah, dass die anderen ihr folgten, blieb sie widerwillig stehen und wartete, bis sie aufgeholt hatten. Was immer es war, das Kyra in Augenblicken wie diesen beherrschte – der Geist ihrer Mutter oder ihr eigener, übertriebener Ehrgeiz –, es hatte sie noch nicht vollständig in seiner Gewalt. Immer wieder blitzte die alte, mädchenhafte Kyra hinter der Maske der eiskalten Dämonenjägerin auf. Lisa atmete insgeheim auf, aber ihre Besorgnis über Kyras Benehmen blieb.
Gemeinsam erreichten sie schließlich die Ausläufer des Hügelgrabes. Der Hang stieg seicht an, bewachsen mit hohem Gras. Es gab keinen Trampelpfad zum Eingang, nur eine Spur abgeknickter Halme, wo die Freunde am Nachmittag hergegangen waren. Schon lange kam außer ihnen niemand mehr hierher. Das Grab war ihr eigenes, unangefochtenes Reich.
Und doch: Kyra schaute sich wachsam nach allen Seiten um, so als erwartete sie, hier noch jemanden anzutreffen.
Sie rannten den Hang hinauf, und Nils wollte sich schon durch den Bretterspalt am Eingang zwängen, als Kyra ihn zurückhielt. »Nein, warte. Wir bleiben hier draußen.«
»Aber hier wird er uns sofort sehen«, widersprach Nils.
Kyra achtete nicht auf seine Worte und wandte den Blick zum Himmel. Eine weitere Wolke wanderte vor den Mond. Abermals machte sich Dunkelheit breit.
»So ein Mist!«, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Kyra«, versuchte Lisa es noch einmal, »du musst uns sagen, was das soll! Warum sind wir hier?«
»Wir müssen erst ganz nach oben klettern. Dann erzähl ich euch alles.«
Chris und Nils wechselten mürrische Blicke, aber keiner widersprach. Ein Streit war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnten.
Kyra erklomm als Erste die steinerne Kuppe des Hügelgrabes. Die Fläche war gewölbt, aber nicht stark genug, als dass es schwierig gewesen wäre, darauf Halt zu finden. Der Durchmesser des kreisrunden Bauwerks betrug etwa dreißig Meter. Aus Fugen und Spalten wucherten Löwenzahn und wilder Efeu.
Im Zentrum der Grabkuppel angekommen, blickte Kyra sich um. Die Wolke würde gleich am Mond vorüberziehen, doch schon ein Stück dahinter rückte die Wolkenfront des Gewitters heran. Wenn es sie erreichte, würde der Mond endgültig verschwinden und in dieser
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