Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
brüllte Kyra und machte einen hastigen Schritt nach vorne.
Die Hexe stieß ein helles Kichern aus und ließ die Hand wieder sinken. »Hast du Angst um sie? Sollten wir da vielleicht einen Schwachpunkt entdeckt haben?«
Schwachpunkt? Wovon redete dieses Miststück nur? Kyra war ein Teenager. Schwachpunkte hatte sie weiß Gott genug.
Oder aber – obwohl das doch völlig unmöglich war, nicht wahr? – verfügte sie vielleicht über Kräfte, von denen sie gar nichts wusste? Konnte sie den Hexen des Arkanums tatsächlich gefährlich werden?
Falls ja, dann wünschte sie sich schleunigst eine Art Gebrauchsanleitung: Folgen Sie den Anweisungen der Zeichnungen eins bis vier, und schon lösen sich alle Hexen in gelben Schwefelwolken auf …
»Wenn du meinen Freunden etwas antust, werde ich niemals eine von euch werden«, sagte Kyra mit fester Stimme.
Die Hexe zuckte mit den Schultern. »Dann stirbst du. Für mich macht das keinen Unterschied.«
»Was werden die Drei Mütter davon halten, wenn du versagst?«
»Versagen? Mein Auftrag ist es, dich zu überzeugen oder zu beseitigen. Rate, was mir mehr Spaß machen würde!«
»Der Mann im Mond hat längst schon versucht, uns zu töten.«
»Vielleicht wollte er euch nur Angst einjagen?«
»Um mich hierher zu locken?«
»Schlaues Kind. Ich habe auf dich gewartet. Es hat länger gedauert, als ich dachte.«
Kyra starrte sie durchdringend an. »Hast du meine Mutter getötet?«
Einen Augenblick lang war Schweigen zwischen ihnen wie eine fühlbare, greifbare Mauer. Dann sagte die Hexe: »Ich habe deine Mutter gekannt, Kyra Rabenson. Ich sah sie sterben. Aber ich bin nicht diejenige, die für ihren Tod verantwortlich ist. Ich hätte sie nicht töten können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Deine Mutter war eine mächtige Frau.« Die Hexe sagte dies mit einer Ehrfurcht in der Stimme, die Kyra überraschte. Die Frau schien es zu bemerken, denn sie fügte hastig hinzu: » Sie war mächtig, Kyra Rabenson – du bist es nicht. Du wirst hier und jetzt sterben, wenn ich es will.«
Kyra wusste nicht, wie ihre Mutter ums Leben gekommen war. Früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatten Tante Kassandra und Kyras Vater stets von einem Unfall gesprochen. Dass in Wahrheit das Arkanum dahinter steckte, war etwas, das Kyra geahnt hatte, seit sie zum ersten Mal von der Existenz des Hexenbundes erfahren hatte. Allerdings waren die Worte der Hexe die erste Bestätigung, die sie für ihre Vermutungen erhielt.
Kyra nahm all ihren Mut zusammen. »Ich glaube nicht, dass es mir bei euch gefallen würde. Arkanum … das klingt genauso langweilig wie Lateinstunden.« Sie gab sich Mühe, möglichst naiv zu klingen.
Die Hexe schmunzelte, aber ihre Augen verrieten, dass sich Zorn in ihr breit machte wie ein tückisches Gift. »Es gibt keine Langeweile in den Reihen des Arkanums. Nichts ist ermüdender, als immer nur gut zu sein. Dieses Problem kennen wir nicht. Wir sind niemals gut. Deshalb ist uns auch niemals langweilig.«
Natürlich ging es Kyra in Wahrheit nicht um Langeweile oder Spaß. Auch erwog sie nicht einmal im Traum, dem Arkanum beizutreten, egal, was ihr dafür geboten wurde. Alles, was sie wollte, war Zeit zu schinden. Zeit, bis ihr endlich eine rettende Idee kam.
»Verrate mir eines«, verlangte sie.
»Was willst du wissen?«
»Wie wird man so mächtig, dass einem sogar der Mann im Mond gehorcht?«
Die Hexe lächelte und konnte nicht verbergen, dass sie sich geschmeichelt fühlte. »Ich bin eine Mondhexe. Es gibt andere: Himmelhexen, Wasserhexen, Erdhexen, Nachthexen, Taghexen, Jenseitshexen … unendlich ist unsere Zahl. Niemand ist mörderischer als die Todeshexen, keine lieblicher als die Liebeshexen. Und niemand versteht mehr von der Macht der Gestirne als wir Mondhexen.«
Kyra gab vor, den Verlockungen des Arkanums allmählich zu erliegen. »Könnte ich auch so etwas sein … eine Jenseitshexe oder eine Mondhexe wie du?«
»Unser Gesang ist es, der uns Mondhexen Macht verleiht. Wenn du singen kannst, könntest du vielleicht eine von uns werden. Ja, ich denke, das könntest du tatsächlich.« Der Blick der Hexe wurde prüfend. »Würde dir das gefallen?«
»Schon möglich.« Kyra tat jetzt ungemein beeindruckt. »Wirst du mir dann die Lieder beibringen, um den Mann im Mond zu beherrschen?«
»Ich oder eine der anderen Mondhexen, ja, das würden wir.«
»Was für eine Hexe war meine Mutter?«
»Eine Verräterin«, erwiderte die Frau auf der Bühne
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