Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
gedeihen.« Lisa konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Ausgerechnet Windpocken! In Nils’ Alter! »Sie jucken wie verrückt. Aber er hält sich ganz gut. Das Fieber ist schon runtergegangen. In ein paar Tagen dürfen wir wieder zu ihm, hat der Arzt gesagt.«
Chris nickte, dann zog er ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seiner schwarzen Jeans.
»Hier, guck mal. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir da nicht zusammen hingehen sollen.«
Einen Augenblick lang war ihm die Einladung wohl ein wenig peinlich, deshalb fügte er rasch hinzu: »Ich meine, Nils und Kyra sind derzeit ja offenbar lahm gelegt.«
Lisa nahm das Papier überrascht entgegen und faltete es auseinander. Darauf stand in weißer Schrift auf schwarzem Grund ein gedruckter Text:
DIE SCHATTENSHOW
Einmalig! Großartig! Wunderbar!
Rechts vom Mond um Mitternacht.
Heute!
Das war alles. Kein Ort, keine Uhrzeit.
»Die Zettel liegen in der ganzen Stadt herum«, erklärte Chris, als er Lisas fragende Miene bemerkte. »Ich dachte mir, das könnte was für uns sein.«
Ehe Lisa überlegen konnte, waren die Worte schon heraus: »Für die Siegelträger – oder für uns beide?« Sie wurde knallrot, noch bevor sie den Satz zu Ende gebracht hatte.
Chris lächelte. »Das eine schließt ja das andere nicht unbedingt aus.«
Sie schluckte einen Kloß im Hals herunter, dann sagte sie rasch: »Glaubst du, das Arkanum steckt dahinter? Oder sonst irgendetwas … na ja, was Dämonisches?«
»Ich weiß nicht recht. Aber wir könnten ja versuchen, ein bisschen mehr über diese komische Show herauszufinden.«
»Jetzt gleich?«
»Klar.«
Lisa zögerte, dann nickte sie. »Warte – ich hole nur mein Fahrrad.«
Zwei Minuten später waren sie unterwegs. Sie fuhren nicht besonders schnell, und trotzdem hatte Lisa ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie über die Pappelallee den Hügel hinabradelten. Der Nebel stand vor ihnen wie eine weiße Wand, sogar die dicken Stämme der Pappeln wenige Meter neben der Straße waren nicht zu erkennen.
»Was hältst du davon?«, fragte Chris.
»Von dem Nebel?«
»Hmm.«
»Ziemlich unheimlich. Aber endlich sind mal keine Autos unterwegs.«
»Das ist ein Vorteil, finde ich auch«, entgegnete Chris und trat kräftiger in die Pedalen.
Lisa kannte den Verlauf der Straße in- und auswendig, sie hätte den Weg nach Giebelstein sogar im Stockdunklen gefunden. Trotzdem war ihr das Risiko, in dieser Suppe von der Fahrbahn abzukommen, zu groß. Was, wenn ihnen wider Erwarten doch ein Auto entgegenkam?
Als sie ihre Bedenken äußerte, wurde Chris sofort wieder langsamer. Sie bogen von der Pappelallee auf die Landstraße und passierten bald die Festwiese, nur um festzustellen, dass es dort keinen Hinweis auf die ominöse Schattenshow gab. Die Schausteller mussten ihre Zelte anderswo aufgeschlagen haben.
Jenseits des südlichen Stadttors, inmitten der alten Fachwerkhäuser des Ortes, hätte die Sicht eigentlich besser werden müssen, doch auch hier war der Nebel undurchdringlich. Auf dem Pflaster lagen zahllose der weißen Werbezettel, so als hätte ein Flugzeug sie über Giebelstein verstreut – oder eine geheimnisvolle Windböe.
Lisa übernahm die Führung. »Ich glaube, ich weiß, wo wir diese Show finden«, rief sie Chris über die Schulter zu. »Rechts vom Mond um Mitternacht, steht auf dem Zettel. Das ist eine Wegbeschreibung.«
Chris blickte ratlos drein. »Und das bedeutet was?«
Lisa grinste. Seit sie Trägerin der Sieben Siegel war, besaß sie die Fähigkeit, die kniffligsten Rätsel mit spielerischer Leichtigkeit zu lösen – und dieses hier war nun wirklich nicht allzu schwer.
»Der Mond um Mitternacht steht derzeit im Westen, oder?«
Chris nickte.
»Und auf einem Kompass liegt Norden rechts vom Westen«, erklärte Lisa. »Zumindest, wenn man ihn im Uhrzeigersinn abliest.«
»Also befindet sich die Show im Norden?«
»Genau.«
»Aber im Norden von was?«
»Von Giebelstein natürlich. Die Zettel sind offenbar nur hier verteilt worden – bei uns im Hotel ist jedenfalls keiner angekommen.«
»Das bedeutet dann wohl, dass wir auf den Wiesen nachschauen müssen.«
Lisa stimmte zu. »Wahrscheinlich bauen sie die Show irgendwo dort oben an der Landstraße auf.«
Sie waren mittlerweile an Kyras Haus vorbeigeradelt. Das Schaufenster von Tante Kassandras Teeladen lag nahezu unsichtbar jenseits der Nebelschwaden. Die Fahrräder trugen sie durch das Nordtor und hinaus in das weite
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