Sieben Stunden im April
stehen lassen. Am Nebentisch saß eine alternde Filmdiva, die ihre besten Zeiten auch schon lange hinter sich hatte. Und die mit langen, künstlichen Fingernägeln bewehrt den Neuen am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. So sah es jedenfalls aus.
Wir wetten bei geschlossener Bahnschranke, ob der Autozug nach Niebüll fährt oder von dort kommt.
»Von rechts oder von links?«
»Links.«
»Um was?«
»Rotwein bei den drei Häschen. Oder ein Stück Pflaumenkuchen.«
»Okay.«
Meistens verliere ich.
Einige Male geht es mir schlecht. Aber Anja setzt auch der Angst Grenzen. Sachlich. Bestimmt. Unerbittlich. Klar. Und überhaupt nicht nett.
An einem Abend machen wir ein Picknick im Strandkorb und sehen dem Sonnenuntergang zu. Sand zwischen den Zehen, der kitzelt. Sand zwischen den Zähnen, den wir mit Wein runterspülen. Ich sehe der Sonne zu und denke, das Leben ist schön. Ob alt oder neu.
Das habe ich schon seit langem nicht mehr gedacht. Und es sollte noch einige Zeit vergehen, bis ich es wieder denken mochte. Aber das macht nichts. Mein Leben ist schön.
Abschied macht frei
Monate später. Wieder ist Sommer, heißer, schwüler, unangenehmer als der vergangene. Es ist der zweite Sommer in meinem neuen Leben. Manchmal denke ich, mein neues Leben ist schön. Manchmal, an besonders guten Tagen, kann ich es sogar fühlen. Schlechte Tage gibt es aber immer noch.
Ich bin in einem Krankenhaus. Psychiatrische Abteilung. Ein altes Haus auf einem großen Gelände. Backstein, solide, ein festes Haus, dicke Mauern als Schutz. Wer wird geschützt? Und vor wem? Die dort drinnen vor denen, die draußen leben und lachen und leiden? Oder ist es umgekehrt?
Ich gehe über einen langen Gang. Ich gehe durch eine Glastür. Hier riecht es so, wie es in allen Krankenhäusern riecht. Nach Krankheit. Und nach Hoffnung auf ein Danach.
Begutachtung. Ich bin hier, um mich ambulant begutachten zu lassen. Ein kurzer, amtlich angeordneter Besuch in einer Welt, die zu vermeiden ich mich sehr angestrengt habe. Ich habe mir große Mühe gegeben, mein neues Leben, dieses zerbrechliche Pflänzchen, vor dieser Welt zu bewahren. Es ist mir gelungen.
Eine Psychologin holt mich zur Untersuchung. Ich soll Tests machen. Sie ist jung, sympathisch, freundlich, mir zugewandt. Sie verwickelt mich in ein kurzes Gespräch. Alles ist irgendwie peinlich, angestrengt, bemüht. Kolleginnen unter sich. Die Erfahrene und die Berufsanfängerin. Diesmal nicht meine Praktikantin oder Hospitantin, keine Kollegin, die von mir lernen will. Sie will mich untersuchen. Und das tut sie. Sehr professionell. Ich fülle Testbögen aus. Ich kenne die meisten, habe sie im Laufe der Jahre vielen Menschen vorgelegt, ausgewertet, dann beurteilt. Diese Menschen.
Sie instruiert mich, sagt in standardisierten Worten, was ich beim Ausfüllen und Bearbeiten der Tests zu beachten habe.
»Ja, ich weiß.«
»Aber Sie wissen ja – ich muss das so machen wegen der Objektivität. Das kennen Sie ja.«
»Ja, das kenne ich.«
Ich bearbeite die Bögen, beantworte Fragen, lerne Substantive auswendig und gebe sie wieder. Einmal, zweimal, fünfmal. Ich versuche, mir Zahlenreihen einzuprägen. Ich löse Rätsel. Ich verweigere mich nicht, gebe mir aber auch nicht so viel Mühe, wie ich könnte. Meine Konzentration erlahmt. Wir machen weiter.
Sie ist so nett, diese junge Kollegin. Und sie macht ihre Sache sehr, sehr gut. Ich kann das beurteilen, weil ich in ihrem Alter auch testpsychologische Untersuchungen in einer psychiatrischen Klinik durchgeführt habe. An Kranken, Verwirrten, Gestrauchelten. Und hin und wieder an Menschen, die in ein neues Leben gestoßen worden sind. Ich fülle Testbögen aus und meine Vergangenheit sitzt mir gegenüber.
Sie macht ihre Sache wirklich gut. Wir sind fertig. Ich verabschiede mich. Ich bin müde. Erschöpft. Wehmütig. Nicht traurig.
Ich gebe ihr die Hand und weiß nicht, was ich ihr zum Abschied gesagt habe. Habe ich gesagt, dass sie ihre Sache gut gemacht hat? Hoffentlich. Ich verabschiede mich von ihr. Ich verabschiede mich von meiner Vergangenheit. Etwas wehmütig. Aber nicht traurig.
In dieser jungen Kollegin bin ich mir selbst begegnet. Und ich habe mich von mir selbst verabschiedet an diesem Tag, in dieser Klinik. Ich habe mich verabschiedet von meinem Leben als Psychologin. Jetzt soll etwas Neues kommen. Etwas, das in mein neues Leben passt. Und zu mir. Ich habe lange genug in den Abgrund gesehen. So lange, bis der Abgrund
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