Siebenschön
Sie haben ein Baby.«
Ja, schon klar! Das dritte obendrein und damit sozusagen den schreienden Beweis für Angelos überbordenden Familiensinn. »Okay, Angelo kann also vor lauter Vaterfreuden nicht mehr Auto fahren«, versetzte sie bissig. »Aber wenn ich mich recht erinnere, habe ich zwei Brüder, Mama.«
»Emilia, bitte!« Geballte Empörung. »Denkst du nicht, dass Alessandro derzeit Wichtigeres zu tun hat?«
Alessandro hatte schon immer Wichtigeres zu tun, als dir den Hintern abzuwischen, dachte Em mit einem Anflug von Neid. Laut sagte sie: »Dein Sohn sitzt in einem vollklimatisierten Büro und organisiert neue Rucksäcke für unsere Jungs in Afghanistan. Wo ist das Problem?«
Es war eine rhetorische Frage: Das »Problem« lag darin, dass der schöne Alessandro seiner Mutter seit Jahren erfolgreich weismachte, dass er sich im Kriegseinsatz befand und somit quasi jederzeit in einem Zinksarg liegend aus einer Bundeswehrmaschine getragen werden konnte.
»Alessandro hat keine Zeit«, entgegnete ihre Mutter säuerlich.
Ich auch nicht, dachte Em. Bloß schaffe ich es im Gegensatzzu meinen Brüdern irgendwie nie, dir das verständlich zu machen. »Schade«, sagte sie. »Aber wie gesagt, bei mir sieht’s diese Woche auch ganz schlecht aus.«
»Na gut, dann am Montag«, erklärte ihre Mutter, die es schon immer in bemerkenswerter Weise verstanden hatte, aus einer Antwort genau das herauszulesen, was sie herauslesen wollte. »Ich denke, gegen zehn wäre gut, aber ich rufe dich zur Sicherheit noch mal an.«
Die Verbindung war unterbrochen, bevor Em auch nur Luft geholt hatte. Weihnachten war alle Jahre wieder eine echte Herausforderung, und jedes Jahr überlegte sie aufs Neue, wie sie dem Verhängnis am elegantesten entgehen konnte. Das Argument, dass sie arbeiten musste, ließen ihre Eltern schlicht und einfach nicht gelten. Umso mehr bewunderte sie Lidia, die geradlinig ihren Weg ging und die familiären Sticheleien mit der gleichen Grandezza wegsteckte, mit der sie auf ihrem Westernpferd die Strände ihrer Heimatinsel Sizilien entlanggaloppierte.
Sie nahm einen Schluck kalten Kaffee und wollte sich eben das Schriftstück ansehen, das Gehling ihr gegeben hatte, als ihr Handy erneut zu bimmeln begann. Sie warf einen Blick auf die Nummer und riss überrascht die Augen auf.
Na endlich!
»Tom?«
»Hi, Em, ich will nicht lange stören, aber …«
»Du störst nicht.«
»Seit wann?«, gab er zurück. Ein Versuch, zu ihrem alten, freundschaftlich flapsigen Umgangston zurückzufinden. Auch wenn er nicht ganz gelang. »Mir ist da nur …« Er zögerte. »Mir ist da gerade was zu Ohren gekommen, das du wissen solltest.«
»So? Was denn?«
»Ich habe die Sache aus absolut zuverlässiger Quelle«, erklärte er anstelle einer Antwort. »Jemand, mit dem ich Tennis spiele, ist damit befasst.«
»Womit?«
»Heute Nachmittag war ein junger Mann hier, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, was ja an und für sich noch nichts Ungewöhnliches ist …«
Das würde ich so nicht unbedingt sagen, dachte Em mit einer Mischung aus Ironie und aufgeregter Erwartungshaltung. Immerhin war morgen Freitag.
»Und wen vermisst dieser Mann?«, fragte sie, als sie spürte, dass Tom ein wenig Ermutigung brauchen konnte.
»Seine Freundin.«
»Wie alt?«
»Sechsundzwanzig.«
Sie schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Und wieso denkst du dabei an mich?«
»Weil es nicht irgendeine Freundin ist …«
»Spann mich nicht auf die Folter, okay?«
Sie hörte ihn lachen. »Okay. Also der Name der vermissten Freundin ist Sarah Jessica Kindle.«
Em hatte das Gefühl, als ob ihr jemand den Stuhl unterm Hintern weggezogen hätte.
»Ich weiß, du hast im Moment viel um die Ohren, aber ich dachte, es interessiert dich vielleicht trotzdem.«
»Und ob es mich interessiert!«, rief sie. »Kannst du mir nähere Informationen besorgen?«
»Klar«, antwortete er. »Ich bitte meinen Kumpel, dass er dir alles, was er hat, rüberschickt.«
»Du bist ein Schatz!«
»Weiß ich doch.« Er lachte wieder. Und zu ihrer größten Freude klang es diesmal echt.
»Dank dir«, sagte sie leise.
»Nicht dafür«, entgegnete er.
12
Dana Westen betrat das Bull and Bear und nahm als Erstes ihre Brille ab, die in der Wärme des brechend vollen Lokals beschlug. Während sie die Gläser an ihrem Schal trocken rieb, blickte sie sich suchend um. Doch Marlon schien noch nicht da zu sein. Also belegte sie einen Platz auf der Empore. Einen winzigen Zweiertisch, nur
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