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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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chinesischer Tradition zu Gegengeschenken. Und je wertvoller ein Präsent ausfiel …
    Sie seufzte und hielt das gerahmte Präsent ein Stück von sich weg.
    Nicht, dass es ihrem Vater dabei um ein Gegengeschenk in einem sehr wörtlichen Sinne gegangen wäre. Aber er hatte sie in Verlegenheit bringen wollen, keine Frage. Und das sogar gleich doppelt, denn bei dem kunstvoll von Hand auf Bambus geschriebenen Text handelte es sich um das berühmte ›Sanshiliu Ji‹, eine Sammlung von Kriegslisten, die trotz Verbots unter Mao in China sozusagen Allgemeingut und unter dem Titel ›Die sechsunddreißig Strategeme‹ in mannigfachen Abwandlungen mittlerweile sogar westlichen Managern geläufig war. Ya Dao hatte seiner Tochter die einzelnen Geschichten schon als Kind nahegebracht und sie dadurch in gewisser Weise auch mit der hohen Kunst der Täuschung vertraut gemacht, die in China weder anstößig noch verpönt war.
    »Damit ich meine Wurzeln nicht aus den Augen verliere, was?«, spottete Zhou, während ihr Blick auf das Strategem mit der Nummer acht fiel.
    Offiziell trug es den Namen ›Heimlich nach Chencang marschieren‹, und die Geschichte, die dahinterstand, handelte von der Kunst, Kritik hinter normalem, unverfänglichem Tun zu verbergen. Und was, dachte Zhou, gibt es schon Unverfänglicheres, als jemandem ein Geschenk zu machen?
    Ist es klug, seine Wurzeln zu vergessen?
    Sie schüttelte ärgerlich den Kopf.
    Das hast du über das Ballett auch gesagt …
    »Wieso kommst du nicht einfach mal her und schaust dir an, wie ich wohne?«, murmelte sie. »Warum sagst du mir nicht einfach ins Gesicht, dass du meinen Lebensstil und den Beruf, für den ich mich entschieden habe, zum Kotzen findest, damit ich dir widersprechen und dich vielleicht irgendwann sogar überzeugen kann?«
    Wenn es dich glücklich macht …
    Täuschung, dachte Zhou resigniert. Es geht immer und überall um Täuschung …
    Sie lehnte das Bild neben sich an die Wand und überlegte, wo sie es am besten aufhängen konnte. Leider war die Wohnung so modern und offen geschnitten, dass es keinen Ort gab, an dem sich das unbequeme Geschenk ihrer Eltern verstecken ließ. Also besann sie sich auf die alte Weisheit, dass man sich jene Dinge, die man ohnehin nicht ändern konnte, am besten so schnell wie möglich zu eigen machte, und beschloss, das Bild direkt über das XXL-Sofa zu hängen, das ihr zugleich als Bett diente.
    Während sie Hammer und Nägel holte, dachte sie an den Fall und an die Frage, die Capelli gestellt hatte, bevor sie auseinandergegangen waren: »Und? Sind wir für morgen gewappnet?«
    Zhou sah auf die Uhr. Morgen begann in ziemlich genau dreieinhalb Stunden. Ein Umstand, der sie nicht gerade mit Zuversicht erfüllte. Ein neuer Tag bedeutete aller Wahrscheinlichkeit nach auch einen neuen Brief. Und, wenn sie Pech hatten, eine neue Leiche.
    »Christina Höffgen und ihr Mann werden ganz normal zur Arbeit gehen«, hatte Makarov zuvor noch einmal zusammengefasst, was sie in einer strategischen Konferenz beschlossen hatten. »Wir haben Kameras in den Autos. In den Büros. Und an sämtlichen Eingängen. Dazu vier Beamte, die sich abwechselnd an ihre Fersen heften.«
    »Der Postbote des Viertels ist ebenfalls informiert«, hatte Capelli ergänzt. »Zwei Teams nehmen sämtliche Sendungen inAugenschein, bevor der Mann überhaupt seine Runde startet. Das verschafft uns im Fall der Fälle einen gewissen Vorsprung. Selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass unser Täter noch einmal den Postweg wählt …«
    Er wird uns überraschen, dachte Zhou unbehaglich. Und er wird uns kalt erwischen. Wir haben nicht die leiseste Idee, wo wir nach der nächsten Leiche suchen sollen, solange er es uns nicht sagt. Auf welchem Weg auch immer …
    Sie verdrängte den unbequemen Gedanken und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. Doch in der Villa nahm niemand ab. Sie hinterließ eine Nachricht, in der sie sich herzlich, aber nicht überschwänglich bedankte. Anschließend nahm sie ihre Sporttasche, die wie immer fertig gepackt neben der Tür stand, und verließ die Wohnung.
    Das ganze Haus roch noch neu, nach Beton, frischer Farbe und Steinstaub. Zhou nahm den Aufzug und dachte an die armselige Hütte, in der ihr Vater die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Es gab nur ein einziges Foto davon, und das war so abgegriffen, dass man kaum noch etwas erkennen konnte. Trotzdem

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