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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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durchschaust. Jeden Winkel einer Persönlichkeit. Jede Lüge. Dort in deiner Klinik spielst du den Doktor Allwissend, aber du bekommst nicht mit, was sich direkt vor deiner Nase abspielt.«
    Ein fragender Blick.
    »Dein Sohn«, antwortete sie, frustriert und müde »Er ist letzten Samstag mit seiner Mannschaft in die Landesliga aufgestiegen …«
    »Davon hat er mir gar nichts erzählt.«
    »Natürlich nicht. Marlon erzählt dir schon seit Jahren nichts mehr über sich. Und weißt du auch, warum?«
    »Nein, sag’s mir!«
    »Weil ihm klar ist, dass es dich nicht interessiert. Dass er dich nicht interessiert.«
    Und an dieser Stelle legte Sander endlich auch seine schon faststoische Ruhe ab. »Herrgott, Dana«, schrie er sie an. »Findest du es fair, so zu …«
    »Dein Sohn weiß schon seit Langem, dass die einzige Chance, deine Aufmerksamkeit zu erregen, darin besteht, ein Verbrechen zu begehen.«
    Sie sah ihrem Mann an, dass er kurz vor einem Wutausbruch stand. Doch so weit ließ er es, wie immer, nicht kommen. Mit einem verächtlichen »Mach dich doch nicht lächerlich« ging er aus dem Zimmer und stieg in sein Auto, um in die Klinik zu fahren.
    Und Dana blieb einsam zurück mit ihrer Verzweiflung und ihrer Hilflosigkeit und ihrem Schmerz um ihren Sohn, der alles tat, um seinen Vater zu beeindrucken. Und der doch nicht die geringste Chance hatte.
    Zwei Patienten von mir sind gestorben …
    Sie wurden ermordet.
    Danas Finger spielten mit dem Untersetzer ihres Weinglases. Es hatte sie damals überrascht zu hören, dass Sander die Arbeit in Haina schließlich doch noch aufgegeben hatte. Aber sie war viel zu realistisch veranlagt, als dass sie diese Entscheidung mit sich oder ihren Gesprächen in Verbindung gebracht hätte. Nein, dachte sie, ich hatte nie auch nur annähernd genug Einfluss auf Sander, um auf sein Denken einzuwirken. Trotzdem schien er sich in letzter Zeit geändert zu haben. Und sie fragte sich ernsthaft, was ihn dazu gebracht haben mochte.
    Zwei Patienten. Eine ehemalige Patientin. Und eine Kollegin …
    Sie wurden ermordet.
    Trotz der Wärme und ungeachtet der vielen Menschen um sie herum, fing Dana auf einmal an zu frieren. Natürlich war ihr Exmann früher hin und wieder beschimpft oder auch bedroht worden. Von Patienten. Von Eltern. Oder von irgendwelchen halbseidenen Anwälten, die ihn dazu bewegen wollten, ein Gutachten oder einen Bericht noch einmal zu überdenken. Aber dass er sie nun anrief, um sie zu warnen. Nach all diesen Jahren …
    Hast du jemand Neues kennengelernt?
    Hat er dich nach mir gefragt?
    Dana fuhr zusammen, als ein Ärmel ihre Schulter streifte. Keine Absicht im Gedränge auf der Empore. Trotzdem pochte ihr Herz von jetzt auf gleich wie wild.
    Hast du jemand Neues kennengelernt?
    »Mama!«
    Sie sah hoch. »Marlon, schön, dass du kommen konntest.«
    Er drehte den Kopf weg, als sie ihn auf die Wange küsste. Das hatte er schon als kleiner Junge getan. »Was gibt’s denn so Dringendes?«
    »Möchtest du dich nicht erst mal setzen?«
    »Sicher.« Er winkte der Kellnerin und bestellte einen Kaffee.
    »Essen wir auch?«, fragte Dana.
    Sein Lächeln war charmant wie immer. »Wenn du mich einlädst.«
    Im Klartext hieß das, dass er mal wieder knapp bei Kasse war. Aber das war ja, weiß Gott, nichts Neues. »Na gut«, antwortete sie mit einer gehörigen Portion von Selbstironie. »Ausnahmsweise.«
13
    Zhou fand das Paket bei ihrer Rückkehr auf dem Fußabtreter vor der Wohnungstür, und ein Blick auf den Absender entlockte ihr ein resigniertes Kopfschütteln. Laut Aufkleber war die Sendung per Kurier geliefert und offenbar von einem hilfsbereiten Nachbarn entgegengenommen worden.
    Sie klemmte sich das sperrige Paket unter den Arm und schloss die Tür auf. Sie hatte noch nicht viele ihrer Nachbarn zu Gesicht bekommen, und die wenigen, denen sie auf dem Weg in die Tiefgarage oder im Aufzug begegnet war, waren ihr miteiner Mischung aus Desinteresse und distanzierter Höflichkeit begegnet. Dass einer dieser Menschen tatsächlich so freundlich gewesen sein sollte, ein Paket für sie anzunehmen, überraschte sie. Wer immer das auch gewesen ist, dachte sie, er hätte das Ding vermutlich nicht einfach achtlos ins Treppenhaus gestellt, wenn er gewusst hätte, welchen Wert er da in den Händen hält! Denn wie üblich hatte ihr Vater keine Kosten gescheut, um ihr – wie die beigefügte Karte verriet – zum Einzug in die neue Wohnung zu gratulieren. Immerhin verpflichteten Geschenke nach

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