Siebenschön
Professors geschickt. Ein ganzes Paket voller toter Augen …
Milans Mutter traut mir nicht. Aber im Gegensatz zu ihrem Sohn ist sie lebendig. Ihre Augen sind grau und haben schon viel Schlechtes gesehen. Demütigungen, vielleicht auch Gewalt. Sie ahnt auch, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Sohn. Aber das wird sie niemals zugeben. Sie hat sich schon mit zu vielem abfinden müssen in ihrem Leben, da will sie diese letzte Bastion auf keinen Fall aufgeben. Mit Mutterliebe hat das nichts zu tun. Sie will bloß nicht versagt haben. Das ist alles.
Ob Milan das spürt, bleibt sein Geheimnis.
Westens Blick suchte die Gegensprechanlage, die noch immer schwieg. Eigentlich müsste der nächste Patient längst hier sein, dachte er. Eigentlich …
Er schloss die Augen und sah den Speisesaal.
»Sieh ihn dir an«, hatte er eines Abends beim Essen zu seinem Kollegen gesagt, einem Mann mit brillanten Instinkten und jahrzehntelanger Erfahrung. »Sieh dir seine Augen an!«
»Ja und?«
»Was siehst du?«
»Hör zu, Sander, ich …«
»Nein!«, hatte Westen ihn unterbrochen, ungewohnt heftig. »Schau dir seine Augen an und sag mir, dass du es auch siehst.«
»Was es ?«
Ja, was eigentlich? Westen zögerte. Beinahe hätte er »dasBöse« gesagt. Doch schließlich formulierte er es anders: »Diese Leere. Dieser Abgrund in seinem Blick.«
Sein Kollege blickte wieder zu dem blonden Jungen. Dann zurück zu Westen. »Das bringt nichts«, sagte er, leise und eindringlich.
»Aber du siehst es auch, nicht wahr?«, drängte Westen. »Du verstehst, was ich meine.«
»Der Junge ist zwölf, Sander.«
»Das ist es ja, was mir solche Sorgen macht. Was wird mit ihm sein, wenn er zwanzig ist?«
»Wir könnten uns irren.«
»Nein!«
»Doch. Und das weißt du auch.«
Dann hatten sie nachdenklich geschwiegen, bis der Kollege ihn plötzlich am Arm gepackt hatte: »Sieh ihn dir jetzt an …«
Sie beobachteten, wie er sich mit Vivienne unterhielt. Der etwas zu klein gebliebenen Fünfzehnjährigen, die in ihrer alten Grundschule Feuer gelegt hatte und sich jetzt rührend um das graue Katzenjunge kümmerte, das der Hausmeister eine Woche zuvor in der Waschküche entdeckt hatte.
»Ich weiß«, sagte Westen. »Das tut er oft. Und ich gebe zu, dass es verdammt echt aussieht. Die Frage ist nur, welcher Teil von ihm die Verkleidung ist. Und welcher sein wahres Ich …«
»Es ist unser Job, uns um den Teil zu kümmern, der das Kätzchen streichelt.« Sein Kollege hatte ihm flüchtig die Hand auf die Schulter gelegt. Fast so, als habe er Mitleid. »Alles andere steht nicht in unserer Macht.«
Westen zuckte erschrocken zusammen, als das Summen der Gegensprechanlage ihn aus seinen Erinnerungen riss.
»Ja?«
»Herr Eich für Sie, Herr Doktor.«
Er seufzte erleichtert auf. »Ja, danke. Schicken Sie ihn rein.«
11
»Emilia, endlich!«
Em verdrehte entnervt die Augen. Ihre Mutter begrüßte sie grundsätzlich mit Stoßseufzern wie diesem, ganz egal, ob sie einander erst am Vortag gesehen oder seit Monaten keinen Kontakt gehabt hatten. In diesem speziellen Fall jedoch, das musste sie zugeben, traf eher das Letztere zu. »Hallo, Mama.«
»Wirklich, Emilia, du hättest dich ruhig auch von dir aus mal melden können.«
Em hasste es, wenn ihre Mutter sie Emilia nannte. Aus Giulia Capellis Mund klang der Name irgendwie immer wie »Gisela-Mechthild«. Und es war auch ziemlich zwecklos, ihr zu erklären, dass sie viel Arbeit gehabt hatte. Also sagte sie nur: »Du hast recht, tut mir leid.«
»Jaja, das sagst du immer.« Sie war sauer und gab sich nicht die geringste Mühe, es zu verbergen.
»Wie geht’s euch denn?«, fragte Em mit unerschütterlicher Fröhlichkeit. »Was macht Papa?«
Ihre Mutter schnaufte verächtlich. »Du kennst ihn doch.«
Aha, also alles bestens.
»Und? Hast du mal wieder was von Tante Gloria gehört?« Immerhin stand Weihnachten vor der Tür.
»Tante Gloria geht mir so was von am Arsch vorbei.« Keine Frage, in puncto Direktheit stand Giulia Capelli ihrer Tochter in nichts nach. »Aber wenn sie glaubt, dass sie alles, was gewesen ist, ungeschehen machen kann, indem sie hier mit einem Container voll stinkendem Parfüm aus der Fabrik ihres Mannes aufkreuzt und heile Welt spielt, dann hat sie sich geschnitten!«
»Du hast sie eingeladen?«
»Natürlich.«
Eine nackte, harmlos anmutende Feststellung. Und doch steckte so viel mehr dahinter. Giulia Capelli hasste ihre Schwester, und bei jedem einzelnen Aufeinandertreffen der
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