Siebenschön
Fräulein Unnahbar hat ja direkt Humor!
»Das bedeutet, dass der Mörder Jenny Dickinsons Vergangenheit aus einer anderen Quelle kennen muss«, resümierte Zhou.
»Und bei Lina Wöllner?«
Sie dachte nach. »Theoretisch könnte der Täter das Gespräch zwischen ihr und Westen belauscht haben.«
Automatisch musste Em an die Gegensprechanlage im Büro des Psychologen denken.
»Nein!«, unterbrach sich Zhou in diesem Augenblick. »Das ist nicht logisch.«
»Wieso nicht?«
»Falls wir richtigliegen, dass er Lina Wöllner irgendwie suggeriert hat, Westen könne ihr gefährlich werden, dann muss er von der Sache mit ihrer Mutter schon gewusst haben, bevor sie in der Praxis aufgetaucht ist.«
»Aber Lina Wöllner hat wirklich alles getan, damit ihre Familie nichts von ihrer Vergangenheit erfährt«, widersprach Em. »Das schließt doch eigentlich aus, dass sie Dritten gegenüber darüber gesprochen hat.«
Die anderen äußerten Zustimmung.
»Woher hat der Täter dann sein Wissen über sie?«
»Im Grunde gibt es da nur eine Möglichkeit …«, sagte Zhou.
»Die da wäre?«
»Er kennt sie von früher.«
10
Milan ist zwölf, als er von zwei Kriminalbeamten aus seinem dunklen Jugendzimmer geführt wird. Sie behaupten, dass er die Schuld trägt am Tod von zwei Kindern. Zwillingen - zwei kleinen Jungen in roten Ringel-T-Shirts, denen er mit einer Schere, wie Kinder sie üblicherweise zum Basteln verwenden, die Pulsadern geöffnet hat. Nicht, weil sie ihn geärgert hätten. Er wollte einfach nur wissen, wie lange es dauert, bis sie verbluten …
Sander Westen vergrub die Stirn in den Händen und hoffte inständig, dass Astrid ihm noch ein paar Minuten Zeit lassen würde. Wieso, verdammt noch mal, konnte er nicht einfach aufhören, an Milan zu denken? Warum war es ihm seit Tagen unmöglich, sich auf seinen Job zu konzentrieren? Auf die Patienten, die ihm Stunde für Stunde gegenübersaßen. Überwiegend banale Menschen mit überwiegend banalen Problemen …
Er hatte niemals Angst gehabt, früher. Oder doch?
Milan weiß, dass ich da bin. Es gibt nicht eine einzige Sekunde, in der er meine Anwesenheit ausblenden könnte. Aber er hat sich im Griff. Erstaunlich gut im Griff für einen Zwölfjährigen. Alles an ihm ist kontrolliert. Seine Mimik. Seine Hände. Seine Sprache.
Wenn er redet, dann spricht er leise und fast immer ein wenig zu schnell. Zumindest mit mir. Allerdings ist mir aufgefallen, dass er zum Beispiel mit dem Küchenmädchen ganz anders spricht. Langsamer und auf eine sehr besondere Weise zugänglich. Milan ist äußerst begabt darin, sichauf andere einzustellen. Auf ihre Wünsche und Vorlieben. Er zeigt jedem, der mit ihm zu tun hat, genau das, was derjenige sehen möchte. Wie ein Spiegel.
Westens Finger wischten ziellos über das Telefon. Spiegel gehörten zu den wenigen Dingen, vor denen er eine fast kindliche Urangst empfand. Hatte er das Kapitel über Milan deshalb so genannt? Hinter dem Spiegel.
Es ist tatsächlich schwer, herauszufinden, wer Milan ist. Ob er überhaupt jemand ist. Oder ob er nur reflektiert, was die Menschen in seiner Umgebung in ihn hineinprojizieren. Manchmal kommt er mir vor wie ein Vampir, ein Junge ohne Spiegelbild. Unsichtbar. Blutleer.
Westen rollte ein Stück vom Schreibtisch weg und schloss die Augen. Seine Großmutter hatte einen von diesen alten Frisiertischen besessen, mit einem riesigen dreiteiligen Spiegel darauf. Die beiden Seitenteile ließen sich frei bewegen, und je nach Winkel ergab sich dadurch die Illusion von geheimen Räumen, von Unendlichkeit und Weite, aber auch von Perspektivbrüchen und Wahnsinn. Er dachte daran, dass sie im Studium ›Alice im Wunderland‹ diskutiert hatten. Und danach auch die Fortsetzung, ›Alice hinter den Spiegeln‹. Er hatte beide Bücher nicht gemocht. Weder die Geschichten selbst noch die Figuren, die in ihnen vorkamen.
Zwei kleine Jungen in roten Ringel-T-Shirts …
Zwillinge.
Zwillinge … Ein Begriff, den Westen automatisch mit Josef Mengele in Verbindung brachte, dem KZ-Arzt, der Hunderte von Zwillingspärchen vermessen, mit Säure traktiert, bei lebendigemLeib aufgeschlitzt, durch Giftspritzen getötet und verstümmelt hatte. Westen erinnerte sich an die Schilderung einer Zeugin, die in Mengeles Labor eine Wand voller Augen gesehen hatte, gelbe, grüne, sogar lilafarbene. Alle fein säuberlich aufgereiht und festgesteckt wie präparierte Schmetterlinge. Später hatte Mengele die Sammlung an das Institut seines
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