Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Gliedmaßen, schlängelte sich zwischen ihren Brüsten hindurch über ihren Leib, schmeckte die Luft mit ihrer gespaltenen Zunge und begab sich hinab in jenes dunkle Tal, jenes dicht bewachsene Dreieck zwischen ihren Schenkeln …
Ganz im Bann dieses Schlangentraums, erwachte Bilodo erregt wie nie zuvor, dabei war dies seit dem Vortag sozusagen sein normaler Zustand: Die Erektion hielt unübersehbar an und ließ nur kurzzeitig nach, wenn es ihm gelang, an etwas anderes als an Ségolènes Tanka zu denken. Bei dessen erneuter Lektüre fragte sich Bilodo einmal mehr, ob seine Wahrnehmung richtig, ob der sexuelle Beigeschmack, den er im Gedicht zu erkennen glaubte, nicht bloß von seiner perversen Phantasie her rührte, und kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war. Das Tanka war unanständig und damit basta. Ob Ségolène es in aller Unschuld oder ganz absichtlich so verfasst hatte – es gab nur eine einzige Art und Weise, gebührend darauf zu antworten:
Sie sind nicht nur die Blume
Sie sind der Garten
Ihr Duft betört mich
in Ihre Blüte dring ich
zu laben mich am Honig
18
Wie das Meer den Strand bespült
ihn sanft mit der Brandung küsst
streifen unsre Lippen sich
fliehen, suchen sich
und werden dann eins
Schokoladenei
österlich geschmückt
von der entblößten Schulter
mit dem verrutschten Träger
muss ich einfach probieren
Zärtlicher Menschenfresser
wer von mir probiert
muss mich dann auch verzehren
oder Sie werden von mir
mit Haut und Haar verschlungen
Wie der Wind will ich
durch Ihr Haar wehen
um dessen Duft zu rauben
unter Ihren Rock gleiten
und Ihre Haut entflammen
Die Zehen strecken
sich vor lauter Lust
so elektrisiert sind sie
Das liegt an meinen Fingern
ich denke zu viel an Sie
Es war eine süße Trunkenheit, ein wollüstiges Fieber, das einen doppelt intensiv leben ließ, eine reißende Strömung, gegen die sich zu sträuben man nicht die geringste Lust verspürte, der man sich nur hingeben konnte, und Bilodo sehnte sich nach nichts anderem. Ihm ginges einzig und allein darum, die sinnliche Erfahrung, das verwegene anatomische Buchstabieren, immer weiterzutreiben und den Rausch bis zum Äußersten auszukosten. Dieses Erlebnis nahm ihn ganz und gar in Anspruch. Er setzte kaum noch einen Fuß vor die Tür und zeigte sich dem Zauber des Monats Mai, der ihm doch der liebste war, gegenüber gleichgültig. Er war nicht wieder ins »Madelinot« zurückgekehrt; beschämt, dass Tania womöglich annahm, er habe sich über sie lustig machen wollen, traute er sich ihr nicht mehr unter die Augen. Zur Arbeit ging er auch nicht mehr. Da er die Schmach, der er im Briefsortierzentrum ausgesetzt war, nicht länger über sich ergehen lassen wollte, hatte er einen sechsmonatigen unbezahlten Urlaub beantragt, der ihm auch gewährt worden war. So konnte er frei über seine Zeit verfügen, die er ganz und gar Ségolène widmete.
Ihr Busen am Horizont
Düne mit Seidenhängen
den Honig kosten
mich daran laben
wie ein verliebter Vampir
Überall nur Sand
mein Mund lechzt halb verdurstet
endlich eine Oase
meine Zunge taucht hinein
es ist Ihr Nabel
Ihre so glatten Beine
vom Mondstrahl eingefangen
um sie zu formen
nahm der Bildhauer
das feinste Mahagoni
Ihre Hände tragen mich,
nehmen, falten mich,
formen mich, entflammen mich
tun mit mir, was sie wollen
ich bin für sie ein Spielzeug
Unter dem Schirm Ihres Kleids
am Kreuzweg Ihrer Schenkel
verbirgt sich ein Fluss
heimlicher Amazonas
ich möchte ihn befahren
Der Stoff Ihrer Haut
berührt die meine –
sie so zusammennähen
dass sie sich beide
immerzu berühr’n
War das Tanka tatsächlich am ehesten dazu angetan, an der Lust zu feilen? Bilodo empfand diese Form, die ihm so willkommen gewesen war, wenn es darum ging, seine Gefühle in Worte zu fassen, mit einem Mal als mühsam, als zu kopflastig. Bei der Suche nach Mitteln und Wegen, seine Feder leichter werden zu lassen, beschloss er, zur ursprünglichen Einfachheit des Haiku zurückzukehren, das seiner Meinung nach eher geeignet war, die artesischen Schübe hervorquellen zu lassen.
Ihre Brust – Berge
Meine Hand richtet
die Gipfel auf gen Himmel
Ségolène schien dieser Schritt zu gefallen, denn sie griff sogleich die knappere Form auf:
Robuste Wurzel
bebt in meiner Hand
ein Schluck vom siedenden Saft
Die Entstehungsgeschichte des Haiku wiederholte sich also: Von überflüssigen
Weitere Kostenlose Bücher