Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Wörtern wie von fallen gelassenen Kleidungsstücken befreit, offenbarte sich die Poesie in ihrer puren Blöße. Doch damit war es noch nicht genug: Weil er die Langsamkeit des gewöhnlichen Postwegs nicht länger ertrug, entschied sich Bilodo für die Eilzustellung. Ségolène tat es ihm gleich, wodurch die Wartezeit verkürzt wurde. Der Briefwechsel beschleunigte sich, die Atmung geriet ins Keuchen, aber für Bilodo ging alles noch immer nicht schnell genug. Er begann, der Guadelouperin Gedichte zu schicken, ohne ihre Antwort abzuwarten, wobei er schon bald täglich ein Haiku für sie verfasste. Auch Ségolène sandte ihm ein Haiku nach dem anderen, ohne die seinen abzuwarten. Beinahe jeden Morgen fiel ein neuer Brief von ihr auf die Fußmatte. Die Gedichte überstürzten sich, ungeordnet, ohne jegliche chronologische Kontinuität, wobei sie seltsamerweise nach wie vor aufeinander reagierten:
Blume Ihrer Haut
in deren zarten Blättern
eine Perle ruht
Tauchen Sie ein in
mein warmes Ich und
binden sich auf meinen Leib
Ich bin schon in dir
dein Schoß empfängt mich
deine Münder schlucken mich
So reist du in mir
sieh dir meine Landschaft an
schwimm in meinem See
Ich bereise dich
dringe ein in das Zentrum
der Hauptstadt in dir
Seebeben – in mir
explodiere ich
intime Supernova
Wilder Tsunami
Fluten von Lava
ich sterbe immer wieder
Die Woge trägt mich
ich bin namenlos
bin nur noch eine Farbe
Sterne – schimmernde Segel
die der Sonnenwind
in die Ferne trägt
19
Man kann nicht ewig in den Wolken schweben. Als ihn die Schwerkraft schließlich wieder einholte, landete Bilodo, noch ganz benommen von der langsamen Detonation des soeben erlebten poetischen Orgasmus, auf der Erde. Es stimmte also, dass die Liebe einen beflügelte. Nie zuvor hatte er eine Frau so umarmt wie dort oben, in anderen Sphären. Er hatte gespürt, wie nah Ségolène ihm gewesen war, wie sie ihm ganz gehört hatte, ganz in ihm gewesen war, so wie er ganz in ihr gewesen war, und wusste, dass auch sie diese Detonation in ihrem Innern erlebt hatte. Er war sich ganz sicher, dass sie im selben Moment wie er zum Höhepunkt gelangt war. Was konnte man danach noch schreiben? Welches Gedicht hätte man verfassen können, das nach einer solchen Befriedigung der Leidenschaft nicht enttäuschend gewesen wäre? Vielleicht etwas Zartes, das man der Geliebten vor dem Einschlafen ins Ohr hauchte?
In der Hoffnung auf eine Eingebung zog Bilodo seinen Kimono über, blickte versonnen zum Fenster und sah vereinzelte Schneeflocken träge auf die Rue des Hêtres fallen. War denn schon Winter? Hatte er einen Großteil des Sommers versäumt? War jener an ihm, der über die Grenzen seines Innenlebens hinaus nichts wahrnahm, wie ein Komet unmerklich vorbeigerauscht? Als er genauer hinsah, merkte er, dass nicht etwa Schnee fiel, sondern Pollen, die der Wind aufgewirbelt hatte, ein Pollenschauer von den Bäumen des benachbarten Parks. Zum Verwechseln ähnlich. Winter mitten im Sommer. Diese surreale Szenerie entsprach Bilodos Stimmung und lieferte ihm die Inspiration für das, was er dann notierte:
Wie Daunen auf den Asphalt
ein Schauer aus Konfetti
fällt der erste Schnee
auf deinen matten
nächtlichen Körper
Maskerade der Wolken
verkleideter Mond
zart ist dieser Augenblick
auf der Veranda
wenn ich nur an Sie denke
Ein trockener Canyon
und nirgendwo ein Rinnsal
nichts kann hier grünen
Meine dürstende Seele
lechzt nach jedem Wort von dir
An keinem Ort und
zu keinem Zeitpunkt
sind Sie nicht ständig bei mir
Vor Ihrer Dichtung ahnte
ich nicht, dass ich allein war
Der Hund wacht über
die Herrin im Schlaf
sterben würde er für sie
Lassen Sie mich armen Tor
Ihr wackerer Ritter sein
Schmeicheln Sie mir nicht – ich bin
Ihre treue Dienerin
Doch wenn es Ihnen beliebt
bin ich auch Ihre
Angebetete
Windmühlen flößen
mir keine Angst ein
auch schreckliche Riesen nicht
allein Ihr Verdruss über
mein sorgenvolles Antlitz
An der Schulwand zeigt
eine alte Uhr
den Bewohnern des Viertels
stets die Uhrzeit an
Mein Herz schlägt allein für Sie
Als Bilodo zufällig einen Blick auf den Kalender warf, stellte er erstaunt fest, dass der August schon weit fortgeschritten war. Es war bald ein Jahr her, dass Grandpré diese Welt verlassen hatte. Mit Riesenschritten nahte jenes schicksalhafte Datum, an dem Bilodos Lebenins Wanken geraten war, doch sah
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