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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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er nicht reagierte, horchte sie an seinem Mund. Stille. Mit zitternden Fingern öffnete sie seine Krawatte, versuchte, sein Hemd aufzuknöpfen, zog es hastig auf und legte ihr Ohr an seine Brust. Überall tiefe Stille. So gut es eben ging, versuchte sie Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzmassage, doch ohne Ergebnis. Ratlos, mit klopfendem Herzen richtete sie sich auf und betrachtete wieder sein unwirkliches Gesicht. »Das darf nicht sein!« rief sie. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer der Rezeption. »Schicken Sie sofort einen Arzt! Sofort!« Schluchzend umarmte sie den willenlosen Körper, der nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, und wehrte sich mit aller Gewalt gegen den Gedanken, daß er vielleicht tot war.
    Der Arzt, ein kleiner Mann mit schwarzem, lokkigem Haar, traf bereits wenige Minuten später ein. Wortlos, seine ganze Aufmerksamkeit nur auf den regungslosen Körper richtend, setzte er sich auf die Bettkante und nahm Herters linke Hand, um den Puls zu fühlen. Etwas Blinkendes fiel aus der Hand zu Boden. Er hob es auf, betrachtete es kurz und gab es Maria. Erstaunt sah sie auf das bizarr geformte Metallstück, Blei vermutlich, das sie nie zuvor gesehen hatte. Was war das für ein rätselhaftes Ding? Woher stammte es? Warum hatte er es in die Hand genommen?
    Auch die Untersuchung mit dem Stethoskop ließ nichts im Gesicht des Arztes erscheinen, das hoffen ließ. Vorsichtig öffnete er Herters Augenlider und leuchtete mit einer Lampe in seine Pupille. Er seufzte, sah Maria an und sagte:
    »Es tut mir leid, gnädige Frau. Ihr Mann ist tot.« »Aber wie ist das so plötzlich möglich?« fragte Maria, als könne eine Antwort auf diese Frage das Ganze doch noch zum Guten wenden. »Vor einer halben Stunde lebte er noch!« Der Arzt stand auf.
    »Ein akuter Herzstillstand. In diesem Alter ist das nicht ausgeschlossen. Vielleicht infolge zu großer Emotionen.«
    »Aber er wollte sich gerade schlafen legen!«
    Der Doktor machte eine Geste, die ausdrücken sollte, daß er auch keine Antwort wisse; mit einigen Worten des Beileids nahm er Abschied. Auch der Direktor des Hotels Sacher war inzwischen ins Zimmer getreten. Bestürzt ergriff er mit beiden Händen Marias Hände und suchte nach Worten. »Gnädige Frau … ein so großer Geist … ein Verlust für die Welt …« stammelte er. »Wir werden Ihnen natürlich in allem zur Seite stehen.« Maria nickte. »Ich möchte kurz mit ihm allein sein.«
    »Natürlich, natürlich«, sagte der Direktor, verließ das Zimmer und schloß leise hinter sich die Tür.
    Maria spürte, daß ihr das Unwiderrufliche allmählich bewußt wurde. Wie es mit ihr weitergehen sollte war jetzt nicht so wichtig, sie mußte jetzt sofort Olga anrufen. Der arme Marnix! Wie sollte man ihm die Nachricht beibringen? In Amsterdam ging niemand an den Apparat, und der Anrufbeantworter schaltete sich ein. »Ich bin's, Maria«, sagte sie nach dem Piepton. »Liebe Olga, etwas Schreckliches ist passiert. Bereite dich auf das Allerschlimmste vor. Rudi ist vorhin gestorben, während er schlief …« Sie fühlte sich gelähmt, zwang sich jedoch weiterzusprechen. »Ruf mich bitte sofort im Sacher an, die Nummer hast du. Ich hoffe, ihr kommt noch nach Hause, bevor ihr euch auf den Weg zum Flughafen macht, sonst werde ich versuchen, euch dort zu erreichen. Vielleicht ist es besser, wenn Marnix von mir erfährt, daß …« Ihre Stimme versagte. »Ich kann nicht weitersprechen …« sagte sie heiser und legte auf.
    Mit dem blinkenden Metallstück in der Hand sah sie zu Herter, das Gesicht naß vor Tränen. »Wohin bist du?« flüsterte sie.
    Ihr Blick fiel auf das Diktaphon in Herters rechter Hand. Ihre Augen wurden kurz größer, sie stand auf und wollte es nehmen, doch die Finger hielten es fest. Während sie es vorsichtig herauslöste, spürte sie, daß sein Körper schon kälter geworden war.
    Das Band war bis zum Ende gelaufen. Im Stuhl beim Fenster spulte sie es zurück, wobei sie hin und wieder hineinhorchte. Plötzlich hörte sie: »Die Leichname wurden in der Nähe des Eingangs in einen Granattrichter gelegt und rasch mit Benzin übergossen. Weil niemand es wagte, in dem Feuerkreis noch einmal nach vorne zu gehen, warf ein Adjutant einen brennenden Lappen auf die leblosen Körper – und ein Polizist, der die Szene aus der Ferne beobachtete, erklärte später, daß es so aussah, als loderten die Flammen von selbst aus den Leichen. Von selbst! Da war sie also, Nietzsches Brandfackel! … Ich kann meine

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