Siegfried
überall will.«
»Der Jude, der Jude …« wiederholte ich. »Er wäre doch nur zu einem Sechzehnteljude gewesen.«
»Ein Sechzehntel!« rief er geringschätzig. »Ein Sechzehntel! Dumme Gans! Lies doch einmal ein Buch statt immer nur Modezeitschriften. Dann wüßtest du, daß sich in jeder Generation wieder ein ganzer Jude herausmendelt.«
»Aber er war auch kein Sechzehntel-Jude. Er war ein Vollblutarier.« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Jemand hat dich betrogen, Adi.«
Als er sich umdrehte, schwankte er einen Moment und mußte sich festhalten. Ohne noch ein Wort zu sagen, schleppte er sich aus dem Zimmer. Aber ich blieb mit einem glücklichen Gefühl zurück: Ich hatte schon befürchtet, er könnte es in all seiner Mühsal vergessen haben. Doch wie konnte ich das nur denken, er vergißt nie etwas.
Magda muß das Bett hüten. In Anbetracht der Tatsache, daß sie ihre Kinder vergiften muß, hat sie Probleme mit dem Herzen bekommen. Ja, ich preise mich glücklich, daß Siggi nicht mehr lebt.
25. IV. 45
Ich erinnere mich an die riesigen Karten auf dem Tisch vor dem großen Fenster im Berghof: Rußland, Westeuropa, der Balkan, Nordafrika. Jetzt liegt auf dem Kartentisch nur noch ein Stadtplan von Berlin. Die Russen stehen nur einen Kilometer von uns entfernt, im Tiergarten; durch alle Straßen und U-Bahn-Tunnel rücken sie näher. Noch ein paar Tage, und ein Plan unseres Bunkers reicht aus.
Heute beim Mittagessen wieder kurz mit ihm allein, aber ich traute mich nicht, ihn erneut auf Siggis Hinrichtung anzusprechen. Welchen Sinn hätte das auch. Während er seinen dünnen Haferbrei aß, kam Linge mit der Meldung, daß soeben eine Armada aus Hunderten von Bombern den Obersalzberg bombardiert und alles vernichtet hat, auch den Berghof. Ich erschrak: Dieser Teil meines Lebens war jetzt also auch weg. Doch Adolf zeigte keine Gefühle.
»Sehr gut«, nickte er zwischen zwei Löffeln. »Sonst hätte ich es selbst tun müssen.«
26. IV. 45
Probleme mit meinem Schwager. Am Abend saßen Hitler, Goebbels, Magda und ich beisammen, die Kinder schliefen, und die beiden Männer redeten über den Augenblick, in dem alles schiefgegangen war. Ich versuchte, sie mit Erinnerungen an die Feste, die wir auf dem Berghof gefeiert hatten, aufzuheitern, doch es war, als hinge der Tod wie schwarze Vorhänge im Zimmer. Plötzlich rief eine Ordonnanz mich ans Telefon. Ich dachte, meine Eltern seien vielleicht am Apparat, doch es war Fegelein. Ich fragte ihn, wo er sei, doch darauf antwortete er nicht. Er sagte, ich solle den Führer verlassen und auf der Stelle mit ihm aus Berlin fliehen, in ein paar Stunden sei es zu spät. Er haue ab, er habe keine Lust, hier für eine sinnlose Sache zu sterben, und ich solle das auch nicht tun. Entsetzt entgegnete ich ihm, er solle sofort in die Zitadelle zurückkehren, denn der Führer kenne bei Deserteuren keine Gnade. Dann unterbrach er grußlos die Verbindung. Gegenüber Adi erwähnte ich das Gespräch nicht, aber es war natürlich abgehört worden, und er erfuhr kurze Zeit später davon. Er befahl, Fegelein zu suchen und zu verhaften. Warum rief er mich an? Er wußte doch, daß die Telefone abgehört wurden. Handelte es sich vielleicht um den verzweifelten Versuch, sich den Führer-Ausweis, den ich besitze, zunutze zu machen? Arme Gretl. Wenn das nur gutgeht.
27. IV. 45
Gut eine Woche bin ich jetzt nicht draußen gewesen, ich weiß, ich werde die Sonne nie wieder sehen, doch damit habe ich mich abgefunden. Dreiunddreißig Jahre habe ich gelebt und fast alles bekommen, was ich mir gewünscht habe – warum sollte ich als achtundachtzigjährige Frau das Jahr 2000 noch erleben wollen, in einer bestialischen, bolschewistisch-verrohten Welt? Nein, ich bin überglücklich, daß ich an der Seite meines Geliebten sterben darf. In diesen Tagen zwischen Leben und Tod denke ich oft daran zurück, wie ich ihn die ersten Male sah und noch nicht wußte, wer er war. Siebzehn war ich damals und hatte gerade bei Hoffmann angefangen, dem ich manchmal in der Dunkelkammer zur Hand gehen durfte. Ich hielt mich gern in diesem geheimnisvollen roten Licht auf, das mir das Gefühl gab, auf einem anderen Planeten zu sein – und noch immer sehe ich, wie sein Gesicht, einer Geistererscheinung gleich, in der Entwicklerwanne aus dem glänzenden Nichts auftaucht. Vielleicht hat er mich ja damals schon mit seinen Augen verzaubert. Hermann heute nachmittag verhaftet. Er war in seiner Wohnung in der
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