Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
auf als Fußabdrücke. In ihrer schwarzen Witwentracht stricken sie, so gut es eben geht, wenn man mitten auf einer befahrenen Kreuzung sitzt. Die Jüngere muss um die fünfundsechzig sein, die Ältere geht auf die neunzig zu, und ihre Beine – sie trägt trotz der Hitze Perlonstrümpfe – baumeln mehrere Zentimeter über dem Boden. Umtost von Teenagern auf ihren Zweirädern, fahren sie mit ihren Handarbeiten fort und scheinen die Gefahren und den Lärm um sie herum gar nicht zu bemerken.
Eine weitere schwarze Witwe strampelt an unserem Beobachtungsposten vorbei. Sie hat tulipani im Fahrradkorb, was auf einen Friedhofsbesuch schließen lässt.
»Wo kaufen sie ihre schwarzen Kleider?«, will ich von Daniela wissen. »Sie sehen alle gleich aus.«
»Woher soll ich das wissen? Glaubst du etwa, wir haben Geschäfte nur für Witwen?«
»Das würde mich auch nicht weiter überraschen«, sagte ich und sehe die Straße hinunter, wo eine Frau zwischen zwei parkenden Autos bügelt. Kann es sein, dass es tatsächlich so heiß in ihrem Haus ist?
» Buona sera «, ruft uns eine Gruppe von Nonnen im Chor zu, die den kurzen Weg vom Kloster zur Sechs-Uhr-Messe in der Kirche zurücklegen.
» Buona sera «, grüßen wir zurück.
»Wie geht es papà ?«, will eine von Daniela wissen.
»So wie immer«, sagt sie traurig.
Die Nonne wird das wissen, findet es jedoch zweifellos höflich, sich dennoch nach ihm zu erkundigen. Der Mann von Gegenüber ist inzwischen wieder voll bekleidet und fegt das Stück Straße vor seiner Haustür. Zwischen seinem Besen, Maria Pias Leiter, dem Korn und dem Traktor, einigen schlecht geparkten Autos, den bügelnden und den strickenden Frauen ist die Via Dodici Apostoli zum reinsten Hindernisparcours geworden. Wer sich sicher darauf fortbewegen will, muss sich von einer Straßenseite zur anderen schlängeln, ein Manöver, für das Autos abbremsen, das aber Vespas lieber im Geschwindigkeitsrausch vollführen. Ich scheine der Einzige zu sein, der bei jedem Beinahe-Unfall nervös wird, und das, obwohl ich mich am sichersten Ort überhaupt befinde.
Ich entdecke eine dunkelblaue Uniform mit rosa Revers und auf Hochglanz polierten Silberknöpfen, und tatsächlich nähert sich ein junger vigile auf dem Fahrrad. Ich bin fest davon überzeugt, dass er die Straßenengpässe auflösen wird, vor dem Bauern in seine Trillerpfeife blasen und mit seinem Riesenlutscher vor Maria Pia herumwedeln wird. Stattdessen versucht er freihändig die Hindernisse zu umfahren, was ihn in etwa so autoritär wirken lässt wie den Zehnjährigen, der hinter ihm genau dasselbe tut.
Da Tod und Zerstörung trotzdem irgendwie vermieden werden, müssen die wahren vigili der Straßen von Andrano die Porzellanmadonna und der Terrakotta-Padre sein, die einen weiteren Nachmittag voller Gefahren verstreichen sahen, ohne dass jemand zu Schaden kam. Wenn hier jemand jammert, dann nur die beiden streunenden Hunde, die sich um ein Revier streiten, das niemandem gehört.
Die Wolkenschwaden über dem Meer werden in ein rosa Licht getaucht. Die Turmuhr schlägt acht, und es fängt an zu dämmern. Ich hatte die campana völlig vergessen, weil ich sie seit dem Angelus-Gebet nicht mehr gehört hatte. War der ganze Trubel auf der Straße daran schuld, oder war mir diese merkwürdige Stadt bereits so vertraut?
Ein Vollmond steigt so schnell über dem Meer auf, dass die Welt aussieht wie eine Scheibe. Fischerboote treiben wie hingetupft auf dem Mittelmeer, deren Scheinwerfer aussehen wie Kerzen auf einer glitzernden Geburtstagstorte. Nachdem Andrano den ganzen Tag in der Sonne vor sich hin gebrutzelt hat, beginnt es sich jetzt abzukühlen. Eine leichte Brise weht durch die Straßen. Die Dämmerung bringt neue Energie.
Die Kirchturmuhr schlägt neun, bevor wir zu Abend essen. Spät zu Abend zu essen ist eine typisch italienische Angewohnheit, wenn auch nur wegen der Unmengen, die es bereits zum Mittagessen gab. Daniela hat nach einem sizilianischen Rezept gekocht. Es gibt melanzane alla parmigiana – gebratene Auberginen, die mit Schinken, Parmesankäse und Basilikum überbacken sind. Ihre Mutter ist Sizilianerin, also stammen die meisten Rezepte, die Daniela geerbt hat, von jener Mittelmeerinsel, wo mamma gerade mit papà »in Urlaub« ist und von wo aus sie auch anruft, als wir gerade mit dem Abendessen fertig sind.
Von der Küche aus höre ich zu, was Daniela sagt, und genieße ihre gelassenen Antworten auf die besorgten Fragen ihrer
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