Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
eine Zigarette anzuzünden. Doch nur wenige beschwerten sich darüber, dass der Zigaretten- den Uringestank der Toilette am Anfang des Waggons überdeckte. Und dafür hatte ich mich so beeilt? Ich hatte eine lange Reise vor mir.
Die lahme Lokomotive zog Waggons, die allesamt unbequem und überfüllt waren. Passagiere ohne Platzreservierung saßen im Gang und wurden von jenen fast zertrampelt, die auf dem Weg in ihre klaustrophobischen Abteile waren. Trenitalia verkauft mehr Plätze, als eigentlich vorhanden sind. Wer keine Reservierung kaufen will, steht ebenfalls im Gang. Und da es Anfang Juli war und die Schulferien soeben begonnen hatten, gab es viele, denen das nichts ausmachte – Hauptsache, sie kamen schnellstmöglich ans Meer. Mensch und Tier konnten es kaum erwarten, Mailand zu verlassen. Ein Passagier versorgte seine Schildkröte mit ein paar Tropfen Wasser, bis sie selbst einige Tröpfchen ließ. Die Schildkrötenpisse stank faulig, und ich vergaß schnell die anderen Gerüche, die unseren Zirkuswaggon füllten.
Hier wurde offensichtlich, warum der Süden verachtet wird. Ich war mit Zügen durch ganz Norditalien gefahren, die schnell, sauber und zuverlässig waren, auch wenn Pünktlichkeit bedeutete, dass sie mindestens eine Viertelstunde Verspätung hatten. Aber diese antike Waggonsammlung sollte mit Sicherheit auf Nimmerwiedersehen ganz unten in den italienischen Stiefel verbannt werden. Der Schriftsteller Guido Ceronetti muss einen ganz ähnlichen Zug benutzt haben, denn er schrieb, diese italienischen Züge verlangten einem Reisenden eine Engelsgeduld ab! Diese dreckigen Blechkisten ohne jeden Fahrplan erinnerten einen eher an Züge aus den Anden oder aus Kalkutta. Das Einzige, was noch fehlte, war Vieh, obwohl die Passagiere eingesperrt waren wie Sardinen in eine Dose. Und dann war da natürlich noch die Schildkröte, dieses inkontinente Mistvieh.
Wenn Italien die Form eines Stiefels hat, ist dieser gleichzeitig eine perfekte Metapher. So gesehen war der Adria-Express sein kaputter Reißverschluss, der auf seinem Weg durch den auf Hochglanz polierten Stiefelschaft – Norditalien – zur kaputten, abgelaufenen Sohle – Süditalien – regelmäßig hängen blieb. Während dieser Reißverschluss langsam nach unten glitt, Zähnchen für Zähnchen, Bahnhof für Bahnhof, öffnete er den Stiefel ein wenig mehr und erlaubte mir zum ersten Mal, seine Passform zu überprüfen und die Unannehmlichkeiten seines plumpen Absatzes zu spüren, der einem eine gehörige Portion Stoizismus und Anpassungsfähigkeit abverlangt, wenn man die Blasen überleben will.
Unser langer Weg war wie eine Reise in die Vergangenheit, und die Warnungen meiner Schüler hallten mir in den Ohren wieder. Während unserer Zeit in Mailand hatte ich Daniela gegenüber höflichkeitshalber so getan, als sei der Unterschied zwischen Nord- und Süditalien gar nicht so groß. Doch jetzt bekam ich Bedenken und befürchtete, den Unterschied drastisch unterschätzt zu haben. Das, was ich als blinden Rassismus abgetan hatte, war in Wahrheit hellsichtige Kritik. Als ich überlegt hatte, Daniela in den Süden zu folgen, hätte ich dem Mann in den Abendnachrichten vielleicht doch etwas besser zuhören sollen: Dieser hatte eine Wasserflasche in die Kamera gehalten und verkündet: »Das ist mein Urin. Ich hatte keine andere Wahl. Sechs Stunden in einem Zug ohne Toilette. Warum passiert so etwas immer nur hinter Rom?« Eine gute Frage, genau wie die, was ich da unten eigentlich zu suchen hatte. Aber ich biss die Zähne zusammen und hielt mir die Nase zu. »Hinter Rom«, genau dort fuhr ich hin. Im Schneckentempo.
Eine Durchsage hieß die Passagiere auf der Fahrt mit Trenitalia nach Lecce willkommen und informierte uns, dass der »Chef Express – das Restaurant auf Rädern« – uns jetzt in Waggon Nummer fünf erwarte. Es folgte eine Aufzählung von Snacks, und im Anschluss wurden die Reisenden sofort daran erinnert, ihre Quittungen bis nach dem Verlassen des Zuges zu behalten. Die Fangarme der Guardia di Finanza reichen überallhin.
Den Großteil der Strecke nach Bologna verbrachte ich damit, dass ich mich mit einer Frau am Fenster unterhielt. Ich identifizierte sie schnell als Engländerin, als ich sie bat, ihre Tasche in das Gepäcknetz zu legen, damit ich ein weiteres Restaurant auf Rädern – den Koffer des Soldaten – waagrecht unterbringen konnte. Als ich den englischen Akzent hinter dem ungerollten R in ihrer höflichen Antwort – »
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