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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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Filme im verregneten Sussex ansehen, wenn er im Mittelmeer baden und sich in der Sonne Andranos aalen kann? Der Sommer war nach Italien zurückgekehrt. Genauso wie die Touristen auf der Suche nach la dolce vita . Genauso wie ich, der ich wider besseres Wissen erneut danach Ausschau hielt.

15
     
    Der Adria-Express
     
    W er mit dem Morgenzug von Mailand nach Lecce fährt, braucht erst gar nicht auf die Anzeigetafel zu sehen, von welchem Gleis der Zug abfährt. Es reicht, den Blick über die Züge in Mussolinis wuchtiger Stazione Centrale schweifen zu lassen, über die glänzenden Eurostars, deren Nasen mit dem Blut kontinentaler Insekten bespritzt sind. Zwischen diesen schlanken Hochgeschwindigkeitszügen entdeckt man dann irgendwann ein altes klappriges Gefährt, das nicht so aussieht, als könne es den Bahnhof überhaupt noch verlassen, geschweige denn die tausend Kilometer lange Strecke nach Süden bewältigen. Das ist der Adria-Express: zu langsam, um eine Mücke zu morden, und auch seine Graffiti hätten ebenso gut bei voller Fahrt aufgesprüht werden können.
    Danielas Bruder hatte mir einen Platz in der Bummelbahn gebucht, nachdem ich ihn von London aus angerufen und angekündigt hatte, dass ich meine Sachen abholen, eine Nacht bleiben und am nächsten Tag nach Lecce fahren würde. Francesco war sehr hilfsbereit gewesen und hatte mich sogar vom Flughafen abgeholt. Jedes ungute Gefühl hinsichtlich unserer gescheiterten beruflichen Zusammenarbeit war wie weggeblasen. Er freue sich, mich wiederzusehen, sagte er, bevor er sich für den Zustand seiner Wohnung entschuldigte, die er nach unserer Abschiedsparty immer noch nicht aufgeräumt hatte.
    Es war früher Abend, als ich in Francescos Wohnung ankam, und kurz darauf klopfte es an der Tür. Seine neugierige Nachbarin hatte irgendwie von meiner Irrfahrt erfahren, wahrscheinlich hatte sie gelauscht, denn die Wand war so dünn wie eine Tapete. Sie fragte, ob ich nicht vielleicht ein Fresspaket für ihren Sohn mitnehmen könne – ein Soldat, der unweit von Lecce stationiert war. Ich sagte, gern, ohne zu ahnen, dass sie damit einen ganzen Koffer meinte, der genauso groß war wie meiner. Sie kochte die ganze Nacht und passte mich an der Haustür ab, als ich Francescos Wohnung am nächsten Morgen verließ. » Attenzione «, sagte sie und hielt den Koffer waagrecht. »Könnten Sie ihn bitte so tragen? Ich möchte nicht, dass die Saucen auslaufen.«
    Es war ziemlich viel Verkehr in der Stadt, und ich war trotz der Zeitsparstrategien meines Taxifahrers spät dran. Der fuhr mit seinem Fiat durch Seitenstraßen und benutzte das Lenkrad einerseits, um damit zu lenken, und andererseits, um sich daran festzuhalten. »Wann geht Ihr Zug?«, fragte er und sah sich nach mir um.
    »Um neun«, sagte ich und klammerte mich an den Türgriff.
    »So ist das mit den italienischen Zügen. Man weiß, wann man losfährt, aber nie, wann man ankommt.«
    Hauptsache, man kommt überhaupt an, dachte ich.
    Weniger als eine Minute vor der Abfahrt schleifte ich mein eigenes Gepäck und das Abendessen eines unbekannten Soldaten zu meinem Waggon am Anfang des Zugs. Der war so lang, dass er über den Bahnsteig hinausging. Ich stieg ein, als schon zur Abfahrt gepfiffen wurde und die Türen sich schlossen – ein atemloser, aber angebrachter Abschied von einer Stadt, die ich stets als hektisch in Erinnerung behalten werde. So, als wolle er Anlauf nehmen, rollte der Zug ein paar Sekunden lang rückwärts, bevor er einen Satz in die richtige Richtung machte und aus dem Bahnhofsgebäude in die helle Julisonne rumpelte. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen verabschiedete ich mich von Mailand und hoffte, diesmal nicht mehr so schnell zurückzukehren.
     
     
    Milano – Bologna
     
    Der Intercity schlingerte über ein Gewirr an Gleisen, bevor er den Bahnhof hinter sich ließ. Als wir Kurs gen Süden nahmen, wichen die Wohnblocks allmählich Fabriken und schließlich Feldern. Der Waggon hatte einen Gang zur Linken, zur Rechten befanden sich Abteile mit je sechs Sitzplätzen. Die Wände meines Abteils schmückten Fotos von den vier Jahreszeiten, aber wir hielten aus unerfindlichen Gründen so oft, dass ich schon befürchtete, mindestens zwei davon vor meinem Fenster verstreichen zu sehen. Zwischen den Bildern hing ein kaputter Spiegel, ein Schild am Fenster warnte in vier Sprachen davor, sich hinauszulehnen, und an der Tür stand »Rauchen verboten«. Das hielt allerdings auch niemanden davon ab, sich

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