Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
so ziemlich überall gezeigt. Das italienische Fernsehen stimuliert die Menschen, statt sie zu informieren. Endlose Varietéshows zeigen mehr oder weniger nackte Nymphchen, die tanzen, in heißen Wannen miteinander ringen und sich weit vor- und zurückbeugen, um das Publikum zu unterhalten. Und wenn Frauen dezent gekleidet sind, filmen ihnen auf dem Boden platzierte Kameras unter den Rock, während andere, die unter der Decke angebracht sind, in ihren Ausschnitt linsen. Alles ist erlaubt, Hauptsache, der banale Alltag der Zuschauer wird aufgelockert. Hauptsache, das ganze Theater hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Hauptsache, die niederen Instinkte dominieren alle höheren Fähigkeiten. Politiker sind längst nicht so wichtig wie Poly-Titten, wie eine italienische Parlamentsabgeordnete bewies. Cicciolina stellte ihre Reize so lange zur Schau, bis sie ins Unterhaus gewählt wurde, wo sie anbot, das Land barbusig zu regieren. Aber die falsche Blondine mit den echten Brüsten hielt sich nicht lange, da ihre Politik nie über ihren Bluseninhalt hinausging. Trotzdem hat sie es so weit geschafft. Es ist schwer vorstellbar, dass ihr das auch in anderen Ländern gelungen wäre.
Aber die meisten Länder nehmen sich für den Geschmack der Italiener viel zu ernst. Die Erfinder des Humanismus sind allen gegenüber misstrauisch, die nach Perfektion statt nach Pläsier streben. Sie bemessen den Wert einer Nation eher an der Qualität ihrer Speisen und Getränke als an der Qualität der Post oder an den Wartelisten fürs Krankenhaus. Danielas Welt besaß einfach andere Prioritäten als meine. Ich hatte ihre für ihren laxen Umgang mit Gesetzen kritisiert und meine für ihre Effizienz gerühmt. Aber nach einem Jahr in Italien fühlte ich mich bei meiner Rückkehr nach England wie jemand, der einen Kindermädchenstaat betritt. Hier gab es viel zu viele Regeln: Rasen betreten verboten, Vögel füttern verboten, Handys verboten, Fußballspielen verboten. Überall, wo ich hinsah, sagte man mir, was ich tun oder lassen sollte. Ein zweistündiger Flug hatte mich von der Anarchie mitten in die Tyrannei gebracht.
Im englischen Fernsehen gab es keine nackten Brüste, aber dafür erpresserische Einspieler, die zeigten, was passiert, wenn man seine Rundfunkgebühren oder seine Kfz-Steuer nicht bezahlt. Da sind mir die Brüste deutlich lieber. Auf einer englischen Toilette verbot mir ein Schild, Papierhandtücher das Klo hinunterzuspülen. In einer öffentlichen Toilette in Italien gibt es weder Schilder noch Papierhandtücher. Wenn in England ein nackter Fan über den Rasen läuft, sehen die Kameras weg und zeigen Moderatoren, die über das Wetter sprechen. In Italien gehört solch unzensiertes Bildmaterial zu den absoluten Highlights. Wenn er im Stau steht, öffnet der italienische Straßenbahnfahrer die Türen, um frische Luft hereinzulassen. Der englische Busfahrer ist per Gesetz dazu verpflichtet, die Türen zu zu lassen, damit keine Fahrgäste aussteigen und überfahren werden können. Genau das waren die Unterschiede zwischen meiner und Danielas Heimat: Überlass die Leute sich selbst oder kontrolliere jeden ihrer Handgriffe.
Solange ich mir ein Land mit Moral wünschte, war ich in Italien unglücklich. Aber sobald ich anfing, The Terrazzo Law zu respektieren, störte mich die allgemeine Respektlosigkeit schon viel weniger. Italiens Untugenden sind eben zugleich seine Tugenden. Das Land bietet einem Zuflucht vor dem Perfektionismus anderer Länder und besitzt dadurch eine ganz eigene Perfektion: Privates Pläsier geht über Fortschritt für alle. Für manche ist das ein Zeichen des Scheiterns, aber für Italiener ist es ein Zeichen des Erfolgs. Da ich diese egozentrische Existenz zuvor heftig verdammt hatte, konnte ich sie jetzt schlecht befürworten. Doch genau das zeigte mir nur, dass ich weitaus italienischer geworden war als angenommen.
Italien befriedigte meine Liebe zum Absurden. Nichts ändert sich, und doch ist das Leben voller Überraschungen. Die Halbinsel ist nicht so, wie sie aussieht. Sie sieht aus wie ein Stiefel, ist aber eigentlich eine Bühne, auf der sich Schauspieler tummeln, die sich weigern, einem bestimmten Skript zu folgen. Ihr Improvisationstheater ist eine Art Zirkus: lustig, gefährlich, chaotisch, erotisch. Das Leben ist eine Show, in der nichts ist, was es scheint oder was es sein sollte. Italien ist kein Land, in dem man leben sollte, wenn man sehen will, was im Fernsehprogramm steht. Und wenn
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