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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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richtig angefangen hatte. Ich trug Marys Tasche über den Hindernisparcours im Gang und reichte sie ihr, als sie wohlbehalten auf dem Bahnsteig stand. »Auf Wiedersehen und alles Gute«, sagte sie leise, bevor sie mich auf beide Wangen küsste wie eine Italienerin und sich zum Ausgang wandte.
     
     
    Bologna – Rimini
     
    Im Jahr 1980 wurde der Bahnhof von Bologna durch einen Terroranschlag erschüttert. Damals explodierte eine Bombe im Wartesaal und tötete fünfundachtzig Menschen. Das Mittsommer-Massaker, das bis dahin das schlimmste Terrorattentat in ganz Europa war, wurde von der Nuclei Armati Rivoluzionari, einer Gruppe Neofaschisten verübt, die Verbündete bis in höchste Regierungskreise besaßen. Die 1970er und frühen 1980er Jahre waren eine höchst blutige Epoche der italienischen Geschichte, die sowohl durch rechts- als auch durch linksextremistische Attentate gekennzeichnet ist. Während die Neofaschisten den Kommunismus um jeden Preis bekämpfen wollten, heimlich einen Staatsstreich planten und bei Bombenattentaten in Mailand und Brescia Hunderte von Menschen töteten, verübten die linksextremen Brigate Rosse oder Rote Brigaden mehrere Attentate auf Vertreter der Staatsmacht, die in der Entführung und Ermordung von Aldo Moro gipfelten, dem einflussreichen Führer der Christdemokraten. Dieser wurde ausgerechnet in Maglie geboren, das nur einen Katzensprung von Andrano entfernt ist.
    Ansonsten wusste ich nur sehr wenig von Bologna, hatte die Stadt allerdings immer schon besichtigen wollen, seit ich Charles Richards Buch The New Italians gelesen hatte, in dem er Bologna als »das Italien, das funktioniert« beschreibt.
    Dieses Lob schien jedoch nicht für durchfahrende Züge zu gelten – zumindest nicht für den, in dem ich saß.
    Ohne irgendeine Erklärung standen wir eine halbe Stunde im Bahnhof. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich gern kurz ausgestiegen, um einen Blick auf »das Italien, das funktioniert« zu werfen, dem Gestank zu entgehen und zuzusehen, wie jeder andere Zug bis auf unseren den Bahnhof verließ. Die Zeit zog sich endlos hin, und ich begann schon zu bereuen, zu geizig für einen Flug nach Süditalien gewesen zu sein.
    » Mio Dio !«, rief eine dicke Frau, die unser kleines Abteil betrat. »Dieser Zug stinkt.«
    » È disgustoso «, pflichtete ihr die Frau, die ihr gegenübersaß, bei.
    » Offensivo «, fügte das Mädchen neben ihr hinzu, das ich für ihre Tochter hielt.
    »Das wird besser, sobald wir wieder fahren«, versicherte ich der neu Hinzugestiegenen, die ihren breiten Bologneser Hintern in den Sitz sinken ließ, den Mary soeben frei gemacht hatte.
    »Falls wir überhaupt jemals weiterfahren«, sagte das Mädchen schnippisch.
    »Ich hab mir schon beim letzten Mal geschworen, nie mehr diesen Zug zu nehmen«, sagte die dicke Frau, die sich uns später als Patrizia vorstellte.
    »Ich kann den Qualm nicht ausstehen«, sagte der Mann zu meiner Linken, knallte die Tür zum Abteil zu und warf seine Zeitung auf den Boden. »Ich kann Leute nicht ausstehen, die im Nichtraucherabteil rauchen.«
    Aber anderen den eigenen Müll hinterlassen, war anscheinend in Ordnung.
    »Das Problem ist nur, dass der Waggon zur Hälfte aus Raucher- und zur Hälfte aus Nichtraucherabteilen besteht«, verkündete die Frau, die ihm gegenübersaß. »Aber wozu das Ganze? Natürlich zieht der Rauch auch in den Nichtraucherbereich.«
    »Darum geht es nicht«, stellte ihre Tochter fest. »Es sind die Leute auf dem Gang, die rauchen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich im Nichtraucher- oder Raucherbereich befinden.«
    »Aber wenn jeder Reisende gezwungen wäre, einen Sitzplatz zu haben«, warf Patrizia ein, »wäre der Gang frei und wir hätten dieses Problem gar nicht erst.«
    Und in diesem Ton ging es weiter: Italiener, die sich über Italien beschwerten wie eine kaputte Schallplatte, die ständig dieselbe alte Leier spielt, während der Zug mühsam aus dem Bahnhofsgebäude fuhr.
    Bei Unannehmlichkeiten reden Italiener stets über das Eine – über Italien. Als Gesprächseinstieg eignen sich Verspätungen, Gestank, Rauch. Doch bald darauf gerät ihr Ärger wieder in Vergessenheit, und es geht um Essen, Städte, Ferien, ein neues Gesetz und eine alte Methode, es zu umgehen. Nachdem wir unserem Ärger Luft gemacht hatten, tauschten wir Adressen aus. Schon bald sollte ich zweimal die Woche Tennis mit meinem Nebenmann Renato spielen, der, wie sich herausstellte, aus Tricase stammte, einem kleinen Ort

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