Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
certo « – wahrnahm, fragte ich, woher sie sei.
»Aus London. Und Sie?«
»Aus Sydney.«
»Ah ja.«
Mary war gewiss einmal sehr schön gewesen und wild entschlossen, ihr wahres Alter mithilfe der Garderobe ihrer Tochter, einem Kilo Make-up und einem Liter Parfüm zu verschleiern – wobei Letzteres angesichts des Uringestanks im Zug eine ziemliche Verschwendung darstellte. Die Fünfundfünfzigjährige, die versuchte, als Dreißigjährige durchzugehen, war ebenso selbstbewusst wie bezaubernd – die Art Frau, die man sich als Mutter seiner Freundin wünscht. Sie berührte mich am Arm, während sie sprach, und beugte sich vor, wenn sie mir Fragen stellte – etwa die, was ich in diesem »Höllenzug« überhaupt zu suchen hätte.
Als ich ihr erzählte, dass ich in ein Fischerdorf am Stiefelabsatz zöge, gab sie mir die Telefonnummer einer englischen Freundin, die für eine Kette von Sprachschulen in Italien arbeitete und von der es, wenn sie sich richtig erinnerte, auch eine Filiale in Lecce gab. »Rufen Sie sie an«, sagte sie. »Sie wird begeistert sein, in dieser entlegenen Gegend auf einen englischen Muttersprachler zu stoßen.« Ich war entzückt. Danielas Hauptsorge hinsichtlich meines Umzugs nach Süditalien waren die miserablen Jobaussichten – ein Problem, das ich unter Umständen schon vor meiner Ankunft gelöst hatte.
Wie um das Ende meiner Geschichte zu markieren, blieb der Zug stehen und fuhr wieder an, als Mary mit ihrer begann. Vor fünfzehn Jahren hatte sie einen italienischen Millionär geheiratet, von dem sie inzwischen geschieden war, »allerdings nicht ohne richtig viel Geld mitzunehmen«. Derzeit lebte sie mit ihrem »neuen Mann« in Como, der »nur halb so alt ist wie ich, mit dem ich aber doppelt so viel Spaß habe«. Ihr geliebter »Robbie«, wahrscheinlich ein englischer Kosename für Roberto, war ein Galerist, der überall auf der Welt ausstellte, während Mary »an den Wochenenden zu ihm stieß«. Vielleicht fühlte sie sich in Anwesenheit der alten Ölschinken jünger. An diesem Wochenende war ihr Robbie auf einer Messe in Bologna. Oder vielleicht doch nicht?
Als der Zug die Hauptstadt der Region Emilia Romagna erreichte, wählte Mary wiederholt Robbies Nummer und wurde zunehmend frustrierter, als er nicht dranging. Ich überließ sie ihren Anrufen und sah, wie die Felder am Fenster vorüberglitten. Wie die meisten Mitreisenden tat ich so, als interessiere ich mich nicht für ihre Männerjagd. Schließlich gab sie es auf und rief Robbie stattdessen in seinem Hotel an. »Aber er muss doch da sein«, protestierte sie, »Ich habe ihm das Zimmer doch selbst reserviert.«
Während der nächsten zwanzig Minuten versuchte Mary ihren Ehemann bestimmt ein Dutzend Mal zu erreichen. Als er endlich dranging, drehte sie sich auf der vergeblichen Suche nach etwas Privatsphäre zum Fenster. Die einzige Alternative wäre die Toilette gewesen, und das kam für eine Frau in Armani nun wirklich nicht infrage. »Was soll das heißen, du bist gerade erst aufgestanden?«, fragte sie auf Englisch, womit sie die Anzahl der Mithörer in unserem Abteil auf einen reduzierte. »Du musst doch in zehn Minuten auf deiner Messe sein. Und warum übernachtest du nicht in dem Hotel, das ich für dich gebucht habe?« Mary hielt sich das andere Ohr zu, als ein vorbeifahrender Zug unser Fenster zum Zittern brachte – bestimmt war es Jahre her, dass sie so eine unelegante Pose eingenommen hatte. »Hör zu, lass uns später darüber reden«, rief sie. »Ich treffe dich in einer Stunde in der Galerie.« Dann klappte sie ihr Handy zu und richtete sich die Haare, für den Fall, dass das Geschrei ihre Frisur ruiniert haben sollte. Als sie sich wieder gefasst hatte, beugte sie sich zu mir. »Er hat das Hotel gewechselt«, flüsterte sie. »Ach ja, sie sind doch alle gleich.« Ob sich das auf Hotels oder italienische Galeristen bezog, war schwer zu sagen. Wie dem auch sei, ich lächelte ihr zustimmend zu.
Nach diesem Vorfall hörte Mary auf, sich mit mir zu unterhalten, ihre selbstbewusste Aura hatte sich der ranzigen Luft im Abteil ergeben. Während der restlichen Fahrt versuchte sie, ihr Misstrauen mit einem Kreuzworträtsel im Zaum zu halten, schaffte es jedoch nur, jene Buchstaben nachzumalen, die sie bereits hingeschrieben hatte, als Robbie noch da gewesen war, wo sie ihn vermutet hatte.
Wie ein humpelnder Hund rumpelte der Zug mit hechelnder Zunge in den Bahnhof von Bologna. Er war schon erschöpft, bevor die Reise
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