Sigma Force 02 - Feuermönche
ausgemerzt wurden. Es entstand der Viererkanon: Nur noch die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes wurden fortan offiziell anerkannt. Alle anderen wurden als ketzerisch verurteilt. Frei nach Irenaeus brauchte die Kirche nur vier Säulen, da es auch nur vier Regionen des Universums und vier Himmelsrichtungen gab. «
» Aber warum wurden speziell diese vier Evangelien den anderen vorgezogen? «
» Ja, warum wohl? Eben darauf wollte ich hinaus. «
Auf einmal war Gray ganz bei der Sache. So ungern er sich Vorträge anhörte, war seine Neugier doch geweckt.
Vigor blickte auf den See hinaus. » Drei der Evangelien – die von Matthäus, Markus und Lukas – erzählen die gleiche Geschichte. Das Johannesevangelium aber erzählt eine ganz andere Geschichte, selbst die Ereignisse aus Jesu Leben passen nicht zur Chronologie der anderen. Allerdings gab es noch einen schwerer wiegenden Grund, weshalb das Johannesevangelium in den Bibelkanon aufgenommen wurde. «
» Und der wäre? «
» Wegen seines Mitapostels Thomas. «
» Der ungläubige Thomas? « Gray kannte die Geschichte des Apostels, der erst dann an Christi Wiederauferstehung hatte glauben wollen, nachdem er sich mit eigenen Augen vergewissert hatte.
Vigor nickte. » Aber wussten Sie auch, dass die Geschichte des ungläubigen Thomas nur im Johannesevangelium vorkommt? Johannes ist der einzige Evangelist, der Thomas als begriffsstutzigen und ungläubigen Jünger schildert. In den anderen Evangelien genießt Thomas großen Respekt. Wissen Sie, warum Johannes diese herabsetzende Geschichte erzählt? «
Gray schüttelte den Kopf. Diese unterschiedlichen Gesichtspunkte waren ihm bislang entgangen.
» Johannes wollte Thomas oder vielmehr dessen Anhänger, die damals sehr zahlreich waren, in Misskredit bringen. Selbst heute noch hat Thomas in Indien eine starke Gefolgschaft. In der Anfangszeit der Kirche aber gab es einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem Thomas- und dem Johannesevangelium. Sie waren so verschieden, dass nur eines Bestand haben konnte. «
» Wie meinen Sie das? Worin bestand der Widerspruch? «
» Das führt zurück zum Anfang der Bibel, zur Genesis un d d eren Anfangszeile: › Es werde Licht ‹ . Johannes und Thomas identifizieren beide Jesus mit diesem ursprünglichen Licht, dem Licht der Schöpfung. Von da an gehen ihre Interpretationen jedoch weit auseinander. Thomas zufolge hat das Licht nicht nur dem Universum zur Existenz verholfen, sondern wohnt noch immer allen Dingen inne, zumal den Menschen, die als Gottes Ebenbild erschaffen sind. Es ist in jedem Menschen verborgen und wartet nur darauf, entdeckt zu werden. «
» Und was ist mit Johannes? «
» Johannes nahm einen völlig anderen Standpunkt ein. Wie Thomas glaubte auch er, das Licht der Schöpfung werde von Christus verkörpert. Doch er erklärte, es sei ihm allein vorbehalten. Der Rest der Welt, die Menschheit eingeschlossen, verharre auf ewig im Dunkeln. Und der Weg zurück zum Licht, zum Seelenheil und zu Gott, sei nur in der Anbetung des göttlichen Christus zu finden. «
» Eine viel engere Sichtweise. «
» Und zudem weit verdaulicher für die junge Kirche. Johannes eröffnete einen orthodoxeren Weg zum Seelenheil und zum Licht. Er sagt, beides erringe man allein durch die Anbetung Christi. Diese Einfachheit und Direktheit gefiel den Kirchenführern jener chaotischen Zeit. Thomas hingegen meinte, jeder besitze die angeborene Fähigkeit, Gott zu finden, und zwar mittels Versenkung, ohne dass Anbetung nötig sei. «
» Und das musste im Keim erstickt werden. «
Ein Achselzucken.
» Aber wer von beiden hat Recht? «
Vigor grinste. » Wer weiß? Ich bin nicht allwissend. Wie Jesus gesagt hat: › Suchet, so werdet ihr finden ‹ . «
Gray zog die Brauen zusammen. In seinen Ohren klang das ausgesprochen gnostisch. Er blickte auf den See hinaus, beobachtete die vorbeigleitenden Segelboote. Suchet, so werdet ihr finden. Hatte er selbst diesen Weg beschritten, indem er all diese Philosophien studiert hatte? Wenn ja, so hatte er keine befriedigenden Antworten gefunden.
Apropos Antworten …
Gray wandte sich wieder Vigor zu; auf einmal war ihm bewusst geworden, wie weit sie vom eigentlichen Thema abgeschweift waren. » Was hat das alles mit dem Massaker von Köln zu tun? «
» Das will ich Ihnen sagen. « Vigor reckte den Zeigefinger . » Erstens glaube ich, dass der Anschlag auf den Konflikt zwischen dem orthodoxen Glauben des Johannes und der uralten
Weitere Kostenlose Bücher