Sigma Force 06 - Das Flammenzeichen
der Sarkophag leer.
Bis auf einen Gegenstand.
In der Mitte lag ein großes, ledergebundenes Buch. Es war etwa dreißig Zentimeter breit, ebenso dick und siebzig Zentimeter hoch. Der Erhaltungszustand war ausgezeichnet. Wahrscheinlich war die Gruft nicht mehr geöffnet worden, seit man sie mit Wachs versiegelt hatte.
Gray bückte sich nach dem Buch.
»Passen Sie auf, dass Sie es nicht beschädigen!«, flüsterte Wallace. »Es wäre besser, wenn wir Handschuhe benutzen würden.«
Gray zögerte, denn er ahnte, dass das Buch sehr alt war.
Wallace aber schlug seine eigene Warnung in den Wind und wedelte aufgeregt mit der Hand. »Worauf warten Sie noch?«
Gray schluckte und legte zwei Finger auf den Rand des Buchs. Pater Giovanni hatte es bestimmt schon aufgeschlagen. Als Gray den schweren Einbanddeckel anhob, leistete die Bindung Widerstand.
»Sachte«, sagte Wallace.
Gray klappte den Einbanddeckel hoch und lehnte ihn an die
Innenwand des steinernen Behältnisses. Die erste Seite war unbeschrieben, doch es schimmerten lebhafte Farben hindurch.
Wallace trat näher. »Mein Gott …«
Er beugte sich vor und blätterte die erste Seite um. »Das ist Kalbspergament«, sagte er, während er das Papier behutsam zwischen den Fingern rieb. Als er die nächste Seite erblickte, staunte er noch mehr.
Im Schein der Taschenlampen funkelte die Tinte wie geschmolzene Juwelen. Dunkelrot, goldgelb und ein so tiefes Purpur, dass es noch feucht wirkte. Die Illustrationen waren detailreich und eindrucksvoll. Dargestellt waren stilisierte Menschen, eingebettet in kunstvolle Schnörkel und Schneckenverzierungen. Mitten auf der Seite war ein bärtiger, gekrönter Mann abgebildet, der auf einem goldenen Thron saß. Die prachtvollen Verzierungen betonten seine Bedeutung.
Der Mann sollte offenbar Christus darstellen.
»Das ist ein illustriertes Manuskript«, sagte Rachel ehrfürchtig.
Wallace blätterte die nächsten Seiten um. »Das ist eine Bibel.«
Sein Zeigefinger schwebte über den dicht angeordneten lateinischen Textzeilen. Die Handschrift war wunderschön, in die großen Anfangsbuchstaben waren kleine Abbildungen eingearbeitet, die Seitenränder mit kunstvoll ineinander verschlungenen mythischen Tieren, geflügelten Engelchen und zahllosen Schnörkeln verziert.
»Die Ausführung erinnert mich an das Book of Kells «, sagte Wallace. »Ein illustrierter irischer Nationalschatz aus dem achten Jahrhundert, geschaffen von zurückgezogen lebenden Mönchen in jahrzehntelanger Arbeit. Dabei enthält das Buch nur die vier Evangelien des Neuen Testaments.«
Wallace zitterte die Stimme. »Ich glaube, das hier ist die vollständige Bibel.« Er schüttelte den Kopf. »Dann wäre das Buch von unermesslichem Wert.«
»Aber weshalb hat man es hier versteckt?«, fragte Seichan, die ebenfalls näher herangerückt war.
Wallace schüttelte erneut den Kopf. Als er jedoch behutsam weitere Seiten umblätterte, beantwortete sich Seichans Frage von selbst.
Plötzlich kam in der Mitte des Buchs ein klaffendes Loch zum Vorschein. Es erstreckte sich durch zahlreiche Seiten und bildete einen Hohlraum von acht Zentimetern Kantenlänge und zweieinhalb Zentimetern Tiefe.
Wallace verschlug es die Sprache.
Gray beugte sich weiter vor. Das Loch war offenbar ein Behältnis, in dem etwas aufbewahrt worden war. Ohne sich umzudrehen, streckte Gray die Hand nach hinten aus. Rachel langte in die Jackentasche.
Sie alle wussten, was in der Vertiefung versteckt gewesen war.
Rachel drückte Gray das ledrige Artefakt in die Hand. Der Beutel war anscheinend aus dem gleichen Leder gearbeitet wie der Bucheinband. Gray hielt den Gegenstand über die Vertiefung. Er passte genau hinein.
»Pater Giovanni hat den mumifizierten Finger mitgenommen, die Bibel aber hiergelassen«, sagte Gray. »Warum?«
Das eine Wort beinhaltete zahlreiche Fragen.
Wallace fügte noch eine weitere hinzu. »Weshalb hat Marco niemandem von seiner Entdeckung erzählt?«
»Vielleicht hat er das ja«, meinte Seichan in kühlem Ton. »Da er gejagt und ermordet wurde, muss es Mitwisser gegeben haben.«
»Sie hat recht«, sagte Gray. »Vielleicht hat Marco nicht sein ganzes Wissen preisgegeben – zum Beispiel könnte er die Entdeckung der Bibel verschwiegen haben. Aber er hat genug verraten, um ermordet zu werden.«
»Ach Gott!«, entfuhr es Wallace.
Gray drehte sich zu ihm um.
»Vor zwei Jahren hat Marco Kontakt mit mir aufgenommen. Er brauchte Geld, um seine Reise fortsetzen zu können.
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