Silberband 012 - Der Anti
»Bestimmen Sie es, wann die Zeit gekommen
ist?«
Jetzt lächelte der Kommandant matt. »Nehmen Sie ruhig an, daß ich es bestimme – Ihr
Gewissen wird dann nicht unnötig belastet. Die Wahrheit werden Sie erst dann erfahren, wenn Sie
an meiner Stelle sitzen.« Er sah auf die Uhr über der Kontrolltafel. »Und jetzt entschuldigen Sie
mich. Ich habe zu tun.«
Der Bildschirm erlosch jäh, ehe der Offizier antworten konnte.
Der Kommandant ließ sich wieder hinter dem Tisch nieder und stützte den Kopf in die Hände, als
sei dieser plötzlich zu schwer geworden. Ganz in seinem Innern konnte er den jungen Offizier
verstehen, der zu seinem Nachfolger bestimmt worden war. Aber das Reglement verbot jede Ausnahme
bei der Strafe des Todes durch den Konverter. Der Nachfolger hatte zu warten, bis das Zeichen
gegeben wurde. Dann erst durfte er sein Amt antreten, damit es nur immer einen Träger des
Geheimnisses gab.
Ich muß so und so sterben, dachte der Kommandant mit aufsteigender Bitterkeit. Das ist nun
einmal der Preis, den ich zu zahlen habe – alle vor mir zahlten ihn genauso wie alle jene,
die nach mir kommen werden.
Nichts konnte die Kette unterbrechen.
Erneut wurde er durch das Summen der Nachrichtenanlage aufgeschreckt. Es war seine Pflicht,
jeden Anruf zu beachten. Also erhob er sich und sah nach, ob es nicht wieder Offizier Eins
war.
Diesmal war es Offizier Zwei, der Sprecher der Mannschaft.
»Kommandant, Ps-Fünf, A-Drei und R-Fünfundsiebzig haben um eine Unterredung gebeten. Wann
wünschen Sie die Genannten zu sehen?«
Der Kommandant überlegte einige Augenblicke.
Daß der Arzt und der Psychologe eine Besprechung wünschten, war nicht außergewöhnlich. Das kam
fast wöchentlich vor. Aber daß ihn auch der Reparateur 75 zu sprechen wünschte, gehörte nicht zu
den Alltäglichkeiten. Mit einer Mischung von Neugier und Befremden sagte der Kommandant daher:
»Erteilen Sie die Genehmigung. Ich erwarte die Genannten zum üblichen Zeitpunkt.« Aus einem
inneren Gefühl heraus fügte er hinzu: »Ich möchte nur die drei Gemeldeten sehen, O-Zwei. Sorgen
Sie dafür, daß O-Eins unter keinem Vorwand zugelassen wird.«
»Verstanden, Herr«, entgegnete der Sprecher und schaltete ab.
Der Kommandant setzte sich wieder und versank in tiefes Nachdenken.
Er ahnte, daß sich Unheil über seinem Haupt zusammenbraute.
Er wußte nur noch nicht, welcher Art dieses Unheil war.
Einige Tage Schiffszeit vorher …
Der Psychologe sah erstaunt auf, als sich die Tür öffnete und Arzt Drei unangemeldet seinen
Arbeitsraum betrat. Beide waren sie etwa im gleichen Alter, und wenn ihre Berufskleidung sie
nicht unterschieden hätte, wäre es einem Fremden schwergefallen, sie auseinanderzuhalten.
»Nanu, A-Drei? Ein seltener Besuch …«
»Ich muß mit dir reden, Ps-Fünf. Nur du kannst mir auf die vielen Fragen antworten, die ich
mir stelle – und die mir gestellt werden.«
Der Psychologe zog die Stirn in Falten. »Fragen? Seit wann stellt man sich Fragen?«
»Das Leben hier stellt uns diese Fragen, und ich kann jeden verstehen, der sie an die führende
Schicht weiterleitet. Das sind wir. Und wir dürfen nicht antworten.«
Der Psychologe lächelte. »Dürfen, mein Freund? Selbst wenn wir wollten, was könnten wir
antworten? Was wissen wir denn schon vom Leben? Wir werden hier geboren, wir leben und arbeiten
hier – und wir sterben auch hier, wenn unsere Zeit gekommen ist.«
»Aber – warum? Warum leben und sterben wir? Welchen Sinn hat unser Dasein? Das, Ps-Fünf,
sind die Fragen, die mir in den letzten Tagen mehrfach vorgelegt wurden. Wie sollte ich darauf
antworten? Ich weiß, daß solche Fragen verboten sind und dem Kommandanten gemeldet werden
sollten, aber ich weiß auch, daß das Todeskommando zu jedem kommt, der solche Fragen stellt und
gemeldet wird. Wenn wir nach den Befehlen gingen, gäbe es in dieser Welt bald kein Lebewesen
mehr.«
Der Arzt beugte sich vor und sah dem anderen in die Augen. »Was ist diese Welt – weißt du
das?«
»Niemand weiß es.« Der Psychologe schüttelte den Kopf. Dann lächelte er plötzlich wieder.
»Warum willst du es wissen? Wir werden in ihr geboren und aufgezogen, wir erhalten unsere
Aufgaben und erfüllen sie. Unsere Welt erhält uns, sie gibt uns zu essen, zu trinken und zu
atmen, sie kleidet uns und gewährt uns einmal im Leben den Urlaub mit den Frauen. Und schließlich
sorgt sie noch dafür, daß wir schnell und schmerzlos
Weitere Kostenlose Bücher