Silberband 057 - Das heimliche Imperium
Realität wurde ins Traumhafte abstrahiert.
Da war die Sonne Bolo. Sie funkelte wie ein böses Auge auf mich und Last Hope herab. Ja, sie war ein gigantisches Auge mit mörderischen Blicken. Ihre heißen Strahlen drohten mich zu verbrennen, brachten den Fels zum Glühen, schmolzen Blei und Zinn.
Es gab nur mich, die unbarmherzige Sonne und die zerklüftete, gleißende Landschaft mit den Seen aus Blei und Zinn. Und Hitze und Sturm. Sie alle bedrohten mich. Sie zerrten an mir und wollten mich in die Knie zwingen.
Ich focht einen aussichtslosen Kampf. Das Auge der Sonne Bolo starrte mich wie hypnotisierend an.
Dann waren plötzlich auch noch andere Augen da. Die Augen der rebellierenden Immunen. Sie jagten mich, weil ich mich nicht in ihre verbrecherischen Pläne einbeziehen ließ. Sie waren hinter mir her – die Machthungrigen, die Meuterer.
Meine Feinde waren überall. Sie hatten mich umzingelt.
Da kam mein Verbündeter. Das Monstrum mit dem dreieckigen Körper und dem 640 Meter hohen Schweif, der sich wie eine Antenne der Sonne Bolo entgegenreckte. Der Marschiere-Viel. Er entzog mit seinem Antennen-Schweif der Sonne die Energien, er überwand mit seinen sechsunddreißig Säulenbeinen das tückische Land, er schlug meine Verfolger in die Flucht. Auf dem Rücken des Marschiere-Viel fand ich Zuflucht, auf dem Rücken, der gleich der Landschaft von Last Hope zerklüftet und felsig war.
Hier fand ich für die Dauer von einigen Monaten Sicherheit.
Dennoch erkannte ich bald, daß ich verloren war, denn die gebotene Sicherheit war trügerisch und relativ.
Die Sonne und die Immunen konnten mir nichts mehr anhaben. Die Hitze und die atmosphärischen Gase wurden von mir abgehalten. Ich besaß einen modernst ausgerüsteten Druckpanzer, genügend Lebensmittel, Wasser und Sauerstoff. Außerdem gab es auf dem Rücken des Marschiere-Viel gefrorene Sauerstoffablagerungen, die ich für mich verwertete.
Diese logischen Überlegungen stellte ich in einer Form an, als würde ich das alles noch einmal erleben. Ich erkannte klar, daß mir von dieser Seite keine Gefahr drohte; ob der Marschiere-Viel nun durch die glühendheiße Tagseite von Last Hope seinen vorbestimmten Weg abschritt oder ob er in der kälteklirrenden Nachtseite erstarrte.
Die Gefahr kam in anderer Form: Mein Geist wurde angegriffen.
Es ging auf und ab. Der Rücken des Marschiere-Viel hob und senkte sich, während er im 80-Stundenkilometer-Tempo dahinraste. Auf und ab. Das Auge Bolos glich sich dem Rhythmus an. Auf und ab. Die gleißende, morsche Felslandschaft glich sich dieser Bewegung ebenfalls an. Auf und ab. Der glühende Himmel, die rotierenden Gase, die ganze Welt glitt vor meinen Augen auf und ab.
Furcht überkam mich. Ich hatte plötzlich Angst, daß eine der Abwärtsbewegungen nicht mehr enden würde. Ich mußte dann fallen.
Da machte sich das Trommeln bemerkbar. Es war charakteristisch für den Marschiere-Viel. Jedesmal wenn er eines der sechsunddreißig Säulenbeine auf dem Boden aufsetzte, gab es eine Erschütterung, die sich auf jede Nervenfaser meines Körpers übertrug. Das Trommeln machte mich halb wahnsinnig. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Funkfrequenz abhörte. Aber dann vernahm ich die Stimmen der Immunen. Sie verfluchten mich, sie drohten mir.
Ich mußte mich den Stimmen verschließen, mußte das Trommeln der Säulenbeine auf dem Fels ignorieren und hatte zudem noch darauf zu achten, daß ich nicht fiel. Denn ich wußte, wenn ich nur einen Augenblick unaufmerksam war, dann würde sich mein Geist einem der drei Einflüsse ergeben. Und das hätte den Wahnsinn zur Folge.
Trommeln. Stimmen. Auf und ab.
Trommeln … Auf und ab … Abwärts … Abwärts fiel ich, immer tiefer … Ich fiel endlos in die Tiefe …«
Irmina Kotschistowa hatte ihren Bericht mit ruhiger, leidenschaftsloser Stimme begonnen. Gegen Ende sprach sie immer schneller, keuchender. Jetzt hielt sie erschöpft inne. Nach einer kurzen Atempause fügte sie mit leiser Stimme hinzu:
»Während des Sturzes in die Tiefe wachte ich auf.«
»Hm«, machte Dr. Kayasho, wandte sich von seiner Patientin auf der ›Couch‹ ab und sah in unbestimmbare Ferne. »Ich würde sagen, Sie haben sich durch Ihren monatelangen Aufenthalt auf der Oberfläche von Last Hope eine Phobie eingehandelt. Sie haben Angst vor Bewegungen und vor tiefen Abgründen. Aber stark kann diese Angst nicht ausgeprägt sein, sonst würden Sie sie nicht in Ihren Träumen, sondern in der
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