Silberband 101 - Eiswind der Zeit
versuchen erst noch einmal, ihn mit Hilfe der eingebauten Technik zu öffnen. Wenn das nicht innerhalb einer Stunde gelingt, setzen wir eine Sprengladung an.«
»Das wollen Sie nicht wirklich!«, rief Persephone stammelnd.
»Bringt sie hinaus!«, befahl Margor. »Wenn sie sich wehrt, denkt daran, dass sie Bannister umgebracht hat.«
Die Tochter Demeters erbleichte. Ihre Haltung ließ erkennen, dass sie kämpfen würde. Sie blickte Margor an, doch er beachtete sie nicht mehr. Zutiefst bestürzt wandte sie sich wieder der Versorgungsmaschinerie zu. Margor beobachtete sie kalt lächelnd. Er hoffte immer noch, dass sie nachgeben würde.
Der Orkan erschütterte die Halle. Die Donnerschläge ließen Persephone immer wieder zusammenzucken und minderten ihre Konzentration. Boyt Margor ging zu ihr. Er war größer als sie, und lächelnd beugte er sich zu ihr herab.
»Verstehst du?«, fragte er flüsternd. »Du hast die Wahl. Wecke Demeter auf – oder ich werde dich töten.«
Sie versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort über die Lippen.
»Siehst du denn die Wahrheit nicht?« Boyt Margors Gesicht verzerrte sich zu einer zynischen Grimasse. »Wenn du stirbst, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Schrein gewaltsam zu öffnen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Demeter dann ebenfalls stirbt. Willst du dich und deine Mutter opfern?«
»Du bist abgrundtief böse«, sagte Persephone keuchend. »Selbst im Reich des Finsteren bin ich niemandem begegnet, der schlechter wäre als du. Ich darf Demeter nicht wecken. Du würdest dir ihre Macht zunutze machen. Das darf nicht geschehen. Ich werde es nicht zulassen. Lieber sterbe ich, und lieber nehme ich Demeters Tod in Kauf.«
Sie wich vor Margor zurück. Erregt zeigte sie auf seine Mitarbeiter. »Glaubst du, ich sehe nicht, was mit ihnen los ist? Sie sind deine Sklaven, Geschöpfe ohne eigenen Willen. Glaubst du, dass ich zulassen kann, dass Demeter ebenso wird? Ich habe die Aufgabe, über sie zu wachen, und das tue ich.« Stolz warf sie den Kopf in den Nacken zurück. »Ich bin ihre Tochter und ihre Wächterin. Ich trage die Verantwortung, und ich entscheide, dass sie die Demeter bleiben wird, die sie immer war. Sie ist die gottgleiche Demeter – oder tot.«
Persephone stürzte sich auf die Maschinerie und versuchte, ein kastenförmiges Gebilde zu drehen. Margor zerrte sie zurück und schleuderte sie zu Boden. Jandra-Perse schnellte sich wieder hoch und griff ihn an. Ihre Handkanten trommelten mit unglaublicher Wucht gegen seine Brust und die Schultern. Boyt Margor brach schreiend zusammen.
Triumphierend beugte sich die Frau über ihn. Sie beachtete die Wissenschaftler nicht, die um sie herumstanden und das Geschehen nahezu teilnahmslos beobachteten. Ihre Hände verkrallten sich um den Hals des Mutanten. Sie wollte Margor töten.
In diesen Sekunden höchster Gefahr für ihn, schlug der Mutant mit voller parapsychischer Kraft zurück, um sich zu retten. Persephones Gesicht verzerrte sich in namenlosem Entsetzen. Sie versuchte, dem tödlichen Angriff zu entkommen, wandte sich ab und machte zwei Schritte, dann brach sie zusammen und blieb leblos liegen.
Ihre Haut nahm ein pergamentartiges Aussehen an. Innerhalb von Sekunden schien sie um Jahrzehnte zu altern.
Boyt Margor richtete sich schwankend auf. Sein Atem ging schnell und keuchend. Er blickte auf die tote Frau, als könne er nicht fassen, was geschehen war.
»Das wollte ich nicht«, sagte er leise. »Wie konnte das geschehen?«
Margor wurde sich des Abgrunds bewusst, an dem er stand. Er spürte, wie gefährlich der Weg war, den er eingeschlagen hatte. Mit einem Mal wurden seine Pläne fragwürdig. Der Tod dieser Frau erschütterte ihn zutiefst, obwohl er keineswegs den ersten Mord begangen hatte. Ihn verunsicherte allein, dass er die Kontrolle über sich verloren hatte.
Bisher war er davon überzeugt gewesen, kühl und stets überlegt zu handeln. Er hatte in dem Bewusstsein gelebt, dass er distanziert beobachtete und Entscheidungen grundsätzlich frei von Emotionen traf. Nun wurde ihm klar, dass er sich grundlegend getäuscht hatte. Ihm wurde bewusst, dass es auch für ihn Situationen gab, in denen er wie ein Mensch handelte und nicht wie ein übermenschliches Wesen, für das er sich hielt. Boyt Margor nahm das Toben des Orkans und den Donner nicht mehr wahr. Es schien, als lebte er für Sekunden in einer anderen, einer unwirklichen Welt.
Schließlich wandte er sich dem Schrein der Demeter zu.
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