Silberfieber
die Rolle. Dann lief er zur Tür und stürmte im Laufschritt den Flur der Psychiatrischen Abteilung herunter, dem breiten steinernen Eingangsportal entgegen.
34
»Können Sie mir wenigstens sagen, in welchem Hotel sie abgestiegen sind?«
Hauptkommissarin Christine Keller saß im Büro von Dr. Friedrich Dufner und konnte nicht glauben, was ihr der Leiter der Psychiatrischen Abteilung des Johanniter-Spitals da soeben erzählt hatte. Die beiden Studenten aus Hamburg, von denen sie gestern noch in London an der Nase herumgeführt worden war, waren nach Bern gereist, um Franz Felgendreher zu besuchen. Und nicht nur das, wie ihr Dr. Dufner gerade eben mitgeteilt hatte, waren sie erst vor etwa einer Stunde bei ihm gewesen. Christine Keller wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte: darüber, dass die beiden Burschen, die sich nach Dr. Dufners Schilderung Unterstützung von einem Londoner Professor besorgt hatten, schneller gewesen waren als sie, oder über die Dreistigkeit, mit der sie auf eigene Faust unterwegs waren und dabei hartnäckig die alte Landkarte beschützten.
»Nein, ich weiß leider nicht, wo die drei Herren abgestiegen sind. Ich hatte keinerlei Anlass, mich danach zu erkundigen. Selbstverständlich wünschte ich jetzt, ich hätte es getan, nach all dem, was ich da von Ihnen erfahren habe«, antwortete Dr. Dufner, der nicht mehr die geringste Spur von Selbstzufriedenheit zeigte. Sie war schlagartig einer stetig zunehmenden Besorgnis gewichen, mit der er der Erzählung der Hamburger Polizeibeamtin zugehört hatte. Der Besucher Felgendrehers von letzter Woche war unmittelbar nach seiner Rückkehr in Hamburg ermordet worden. Mit solchen Geschichten wollte er nichts zu tun haben. Für das Renommee des Spitals war so eine Entwicklung der Dinge das Gegenteil von vorteilhaft. Natürlich hatte er das der Frau Hauptkommissarin nicht auf die Nase gebunden, sondern ihr vielmehr seine uneingeschränkte Kooperation bei ihren Ermittlungen zugesichert.
»Sie haben mir von ihren Forschungsarbeiten erzählt, irgendetwas mit Diplomarbeiten in Geologie. Der Professor, McCully hieß er, glaube ich, ist Professor für Geophysik in London. Sie wollten Franz Felgendreher eine Karte zeigen, die sie dabeihatten«, erklärte er ihr.
»Obwohl da gar nichts drauf zu sehen war, nur jede Menge Wasser«, fügte er hinzu.
»Sie haben die Karte gesehen?«, fragte Frau Keller mit gesteigertem Interesse. »Haben sie Ihnen die Karte gezeigt?«
»Ja, aber nur kurz. Ich habe kaum hingesehen, weil ich ihnen erklären wollte, wie sie sich während des Besuchs bei Franz Felgendreher verhalten sollen. Sehen Sie, es ist nicht ganz so einfach, unseren Patienten gegenüberzutreten. Immerhin handelt es sich bei ihren Krankheiten um schwere Defekte der menschlichen Psyche und ich …«
Weiter kam er mit seinen Ausführungen über die menschliche Psyche nicht, denn kurz hintereinander hallten laute Schreie durch das Gebäude, gefolgt vom Knallen einer zuschlagenden Tür und dem Geräusch von Schritten in schneller Abfolge. Letzteres Geräusch war umso leichter zu identifizieren, als es immer lauter wurde, je weiter es sich dem Zimmer von Dr. Dufner näherte.
Christine Keller sprang auf und stand schon an der Tür, als Dr. Dufner noch dabei war, sich aus seinem Sessel zu erheben. Sie versuchte, die Tür nach außen zu öffnen, kam aber nicht weit, denn sie knallte mit doppelter Energie zurück und ihr mitten ins Gesicht. Fast wäre sie von dem gewaltigen Schlag, den der Flüchtende der aufgehenden Tür von außen versetzt hatte, zurück in Dr. Dufners Zimmer auf den Boden geworfen worden. Ihr wurde schwarz vor Augen, und dann sah sie ein helles Funkeln, das viel zu langsam wieder nachließ, als dass sie rechtzeitig auf den Flur hinausgelangen und dem Flüchtenden hätte nachsetzen können. Als sie wieder etwas sehen konnte, konnte sie nur noch die Umrisse einer hünenhaften Gestalt erkennen, die in ihrem offen flatternden Mantel so riesenhaft wirkte, dass sie die gesamte Öffnung des gewaltigen Eingangsportals auszufüllen schien.
Einstein hatte bereits das Außengelände des Spitals erreicht, als sich Frau Keller so weit gesammelt hatte, um die Verfolgung aufnehmen zu können. Der Klinikflur war so breit, dass sie sich nicht lange zwischen den Krankenpflegern, den Schwestern und Patienten Platz verschaffen musste, die aus den geöffneten Türen herausstürzten. Respektvoll wichen sie zurück und ließen die vorbeieilende Frau
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