Silberfieber
durch, die eine Pistole gezogen hatte und laut rufend dem flüchtenden Spitalbesucher nachsetzte.
»Halt, bleiben Sie stehen, Polizei, halten Sie den Mann auf.«
Letzteres war eine fast aussichtslose Aufforderung, denn nur wenige der Umstehenden verfügten über eine Fitness, die ihnen ermöglicht hätte, den flüchtenden Mann einzuholen oder aufzuhalten, der in bester körperlicher Verfassung zu sein schien.
Christine Keller erreichte das Eingangstor, sah Einstein etwa fünfzig Meter vor ihr laufen und schätzte, dass sein Vorsprung sich rasch vergrößern würde, selbst wenn sie versuchen würde, ihm zu folgen. Kurz entschlossen zückte sie ihre Waffe, setzte ihr linkes Knie auf den Boden, stützte sich mit den Ellenbogen auf das rechte Knie und nahm Einstein ins Visier. In dem Moment, als sie abdrückte, schickte ihr Blutkreislauf, der noch mit der Bewältigung des krachenden Schlages der Tür in ihr Gesicht beschäftigt war, ihr einen neuen Schwall sternenartiger Lichter vor die Augen, sodass sie den abgegebenen Schuss hören konnte, aber zu ihrem Leidwesen nicht mehr sehen konnte, ob sie getroffen hatte. Sie ließ die Waffe sinken, schmeckte das aus ihrer gebrochenen Nase in den Mund laufende Blut und richtete sich langsam wieder auf.
Einstein hatte mittlerweile den Ausgang des Krankenhausgeländes erreicht und setzte mit wachsender Erfolgsaussicht seine Flucht fort.
»Mein Gott, Sie bluten ja, Ihre Nase!«, rief Dr. Dufner, der jetzt erst außer Atem neben ihr im Foyer stand. Hauptkommissarin Keller machte eine abwehrende Handbewegung. Sie hatte bereits ihr Handy in der Hand und sprach mit der Berner Polizeistation, der sie eine Beschreibung des Flüchtenden gab. Die Kollegen versprachen, Beamte zum Bahnhof und zum Flughafen zu senden. Der Zusage konnte Frau Keller vertrauen. Schon am Morgen hatte sie, in weiser Voraussicht und im Gegensatz zu ihrem Vorgehen in London, ihre Kollegen vor Ort von ihrem Besuch in Kenntnis gesetzt. Dieses Mal, ein Glück, bevor sie deren Hilfe benötigte. Einerseits konnten sie Einstein somit jetzt vielleicht schneller stellen, andererseits – hätte sie aber die für diese Vorbereitungsmaßnahmen notwendige Zeit eingespart – hätte sie vielleicht sogar den Überfall verhindern können.
Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie Dr. Dufners Drängen nachgab, ihm in sein Büro folgte und sich auf einen Stuhl setzte. Seiner Anweisung folgend, lehnte sie den Kopf nach hinten, sodass ein Krankenpfleger eine Notversorgung ihrer Nase vornehmen konnte. Mit einer Anzahl Wattetampons versuchte er, die Blutung zu stoppen. Viel Zeit ließ sie ihm allerdings nicht dafür. Mit pochenden Kopfschmerzen und der linken Hand vor der Nase lief sie ein paar Minuten später zum Ende des Ganges. An der Menschenansammlung vor der Tür erkannte sie Felgendrehers Zimmer, während sie aus dem blau blinkenden Widerschein im Flur schloss, dass der Krankenwagen aus der unmittelbaren Nachbarschaft vor dem Eingang eingetroffen war.
Wieder machten die Umstehenden der Frau, die den Schuss abgegeben hatte, sofort Platz, und Frau Keller trat zu dem auf seinem Bett liegenden Franz Felgendreher. Im Vergleich zu ihrer eigenen Wunde war recht wenig Blut auf das Bettkissen gesickert. Sie schritt mehrmals um das Bett herum und betrachtete die zusammengesunkene tote Gestalt. Am auffälligsten waren seine Arme, die seitlich neben dem Körper lagen, und die nach oben gekehrten Handinnenflächen. Es sah aus, als hätte er kapituliert, als hätte Felgendreher es ganz zum Schluss aufgegeben, gegen das Unheil der Welt anzukämpfen. Seine Augen blickten starr und leer zum Fenster hinaus. Christine Keller trat näher an das Bettgestell heran und nahm vorsichtig den Fetzen Papier auf, den Felgendrehers Hand freigegeben hatte, als er gestorben war. Es war der Rest einer Landkarte, den sie jetzt in der Hand hielt. An der Anordnung der Ortsnamen, die sie entziffern konnte, und an den Rändern des Papiers erkannte sie, dass sie die linke obere Ecke der Landkarte in der Hand hielt, die sie seit Tagen suchte. St. Lawrence River war der einzig vollständig lesbare größere Name auf dem Kartenrest.
»Er hat noch etwas gesagt«, meldete sich schüchtern eine Krankenschwester, die in respektvollem Abstand im Raum wartete. Frau Keller meinte, sich zu erinnern, ihr Gesicht beim Eintreten im Empfangsbereich gesehen zu haben.
»Was?«, fragte sie.
»Nicht viel«, antwortete die Krankenschwester, »er hat kaum noch
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