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Silbernes Band (German Edition)

Silbernes Band (German Edition)

Titel: Silbernes Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Jaedig
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Seit 258 Sekunden hatte er Gewissheit. Einige seiner Fragen waren nun beantwortet, weitere kamen dazu und brannten ihm auf der Zunge. Aber Kristín hatte nicht vor, sie zu beantworten. Sie sprang auf, stiess dabei den Stuhl um und stürzte weinend aus der Küche. Liess ihn allein, mit seiner Gewissheit und seinen Fragen.

Flieder, Wollgras, Frühlingssonne

    Reykjavík, 4. Oktober 2010

    Sein Ziel war die Buchhandlung im Erdgeschoss des hässlichen braun-grünen Bürogebäudes am Skólavörðustígur. Er schüttelte kurz den Nieselregen aus den Locken und nahm schon mal die niedrigen Tische mit den Neuerscheinungen ins Visier. An diesem Spätnachmittag war nicht besonders viel los. Einige Kunden stöberten zwischen den Regalen, ein paar Tische des Cafés waren besetzt.

    Kaum war er über die Schwelle getreten, fand er die Neuerscheinungen nicht länger interessant. Ihm stieg eine zarte Wolke von rosa blühendem Flieder in die Nase. Kein typisch isländisches Aroma, ergänzt durch fedriges Wollgras und den Geruch der ersten sonnigen Frühlingstage. Er müsste jetzt eigentlich den Atem anhalten, sich die Nase zuklemmen und rückwärts zur Tür hinaus verschwinden – aber er konnte nicht. Wie in Trance folgte er der verführerischen Fährte, die zur Quelle des berauschenden Duftes führte. Alles Übrige blendete er komplett aus: Die mehr oder weniger anziehenden Körpergerüche der Kunden und Angestellten, das Gewirr pochender Herzen. Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee und den leckeren Süssigkeiten, die man sich dazu gönnen konnte. Summende Stimmen, klapperndes Geschirr, die elektronischen Kassen, die piepsten, wenn ein Preis eingescannt wurde. Der penetrante und viel zu laute Klingelton eines Mobiltelefons. Der Geruch nach Papier, Druckfarbe und Leim, der von den Büchern stammte. Da war nur noch dieses unwiderstehliche Parfum, dazu ein wunderbar melodischer Herzschlag, der wie Musik in seinen Ohren klang. Er war diesem köstlichen Duft ausgeliefert. Es spielte keine Rolle, was gleich passierte, er musste wissen, wer ihn mit seinem Blut bannte, ihn gefährlich nahe lockte. Womöglich ins Verderben...

    Ilka María Hauksdóttir stierte mit rot verheulten Augen auf die Titelseite einer englischen Klatschzeitung. Von leisen Schluchzern geschüttelt strich sie mit der Hand über das Foto des abgebildeteten Soap-Stars. Der junge Schauspieler war am Wochenende durch die Londoner Clubs gezogen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste er verschwunden sein. Das Management befürchtete eine Entführung, allerdings war bisher keine Lösegeldforderung eingegangen.

    Rúna Pétursdóttir war dabei, neue Bücher in die Regale im hinteren Bereich der Buchhandlung einzuordnen. Auf einem kleinen Wagen stapelten sich Taschenbücher, Hardcover und Bildbände, die darauf warteten, dass man sie am richtigen Ort einreihte. Rúna interessierte sich nicht besonders für das Schicksal des entführten Schauspielers und hatte deshalb gar nicht richtig zugehört, als Ilka in der Mittagspause haarklein davon berichtete. Sie konnte sich noch nicht mal seinen Namen merken. Jamie oder Jimmy Irgendwas.

    Hoffentlich kriegte Dóra nicht mit, dass Ilka schon wieder im Netz hing, um die neuesten Kommentare zum dubiosen Verschwinden von Jamie oder Jimmy zu lesen. Die riesige Fangemeinde apellierte an die mutmasslichen Entführer, ihren Liebling doch bitte unversehrt freizulassen. Rúna fand es irgendwie peinlich. Mit einem leisen Seufzer wandte sie sich wieder der Regalwand zu, um eine 1’200seitige Familienchronik einzuordnen.

    „Verzeihung, kannst du mir weiterhelfen?“ Sie hatte nicht gehört, dass jemand an sie herangetreten war, fuhr deshalb erschreckt zusammen, bevor sie sich nach der angenehmen, männlichen Stimme umwandte. Rúna blickte in ein Paar geheimnisvolle dunkelblaue Augen mit silbernem Schimmer. Komische Farbe. Sie fing sich gleich wieder. „Sehr gerne. Suchst du etwas?“

    Er starrte wie gebannt auf die junge Frau, genaugenommen auf ihre Kehle, wo das süsse Blut pulsierte und seinen Durst anheizte. Flieder, Wollgras und Frühlingssonne brachten ihn beinahe um den Verstand. Sie war offensichtlich neu hier, sonst wäre sie ihm schon bei seinem letzten Besuch aufgefallen. Er zwang sich, den Blick von ihrem Hals abzuwenden, und musterte sie schnell und gründlich: Schuhgrösse 38. Barfuss war sie exakt 21,2 Zentimeter kleiner als er. Ohne die schwarzen Hosen, die dunkelrote Bluse und das Darunter wog sie ziemlich genau

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