Silbernes Band (German Edition)
Weg zum Flughafen, um die Insel zu verlassen. Kristín hatte ihn zum Teufel geschickt. Heiðar kannte ihre seltenen, aber heftigen Wutausbrüche. Sie war wie die Hekla, brach ohne Vorwarnung aus. Dann war sie laut und unbeherrscht. Ein zartes, zerbrechliches Persönchen, das sich in einen Vulkan verwandelte. Ob sie damit auch einen Vampir in die Flucht schlug? Sie musste Fionn schon einmal so behandelt haben. Damals, als sie ihn verliess.
Heiðar versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er musste wieder ins Gleichgewicht finden. Musste laufen, bis seine Lungen schmerzten, dann konnte er wieder klar denken. Dann wollte er in Ruhe entscheiden, was zu tun war.
Kristín blieb weinend zurück. Sie hatte viele Fehler gemacht in den Jahren seit Heiðars Geburt. Fionn nach so langer Zeit wiederzusehen war ein Schock gewesen. Die Gefühle für ihn, die sie stets verdrängt hatte, verwirrten sie und machten ihr Angst. Deshalb setzte sie ihre kalte, harte Maske auf und spielte einfach ihre Rolle weiter, die sie an jenem Tag angenommen hatte, als sie ihn verliess. Sie weigerte sich, die Liebe in seinem Blick zu sehen, und liess bloss unbändige Wut für ihn übrig, als er ihr anbot sie zu retten.
Für sie und Fionn gab es keine Hoffnung mehr, es war zu spät. Sie war nie wirklich bereit gewesen, sich mit seiner Welt auseinanderzusetzen. Er hatte es gespürt und sie deshalb von allem ferngehalten. Seine Bemühungen, mit ihr ein menschliches Leben zu führen, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er konnte seine Natur nicht verleugnen, hielt bloss die Illusion aufrecht, sie wären ein normales Paar. Als diese Illusion platzte wie eine Seifenblase, als sie nicht länger wegsehen konnte, blieb ihr nur noch die Flucht aus diesem Leben.
Kristín wünschte, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können. Dann würde sie ihrem Sohn früher von Fionn erzählen, um ihm die jahrelange Qual zu ersparen. Vielleicht hätte er eine Beziehung zu seinem Vater aufbauen können? Kristín hätte die Angst, dass Fionn ihren Sohn in seine Welt entführen könnte, aushalten müssen. Sie war zu feige gewesen, dieses Risiko einzugehen. Sollte sie nicht wenigstens jetzt darauf hoffen, dass Fionn Kontakt aufnahm zu seinem Sohn? Damit Heiðar nach ihrem Tod nicht ganz allein zurückblieb?
Zurück ins Gleichgewicht
Heiðar überliess sich seinen Instinkten und schlug spontan den Weg zum Öskjuhlið ein. Die unbekannte Hälfte seiner Persönlichkeit hatte die Führung übernommen. Er fühlte sich nicht wirklich wohl in diesem Teil seines Wesens, es war wie ein schlecht sitzender Anzug oder ein Paar neue Schuhe, die man erst einlaufen muss. Die Vampirseite - oder das Raubtier, wie er es nannte - liess er bloss frei, wenn er jagte. Dann brauchte er seine Instinkte und seine besonderen Kräfte.
Er lief den Hügel hinauf, bemühte sich dabei um menschliches Tempo, um nicht aufzufallen. Oben trohnte die Perlan . Die gläserne Kuppel des Restaurants war hell erleuchtet. Heiðar konnte sehen, wie sie sich langsam drehte, um ihren Gästen das ganze Panorama der Hauptstadt bieten zu können. Einige Tische waren besetzt, obwohl es noch ziemlich früh war. Gestern erst hatte er selbst dort oben gesessen. Wie üblich, in charmanter weiblicher Begleitung. Er hatte Mensch gespielt, um einen vergnüglichen Abend zu verbringen. Hinterher waren sie im Bett gelandet. Es war von vornherein klar gewesen, dass es keine Verpflichtungen gab. Sie wollte ihn bloss für eine Nacht, ihm war es recht. Er dachte an Rúna. Mit ihr würde er es kaum bis zur Bettkante schaffen. Wohl nicht mal bis zum Hauptgang. Er würde das Essen zurückgehen lassen. Der verdutzte Kellner würde vielleicht einen Moment unentschlossen am Tisch stehen bleiben, die Teller in der Hand, während Heiðar sich auf Rúnas Kehle stürzte.
Er rannte über den Hügel, durchquerte den kleinen Wald und lief runter zum Strand. Liess die Stadt hinter sich und suchte die Einsamkeit, um seine gesamte Kraft fliessen zu lassen. Mühelos bahnte er sich einen Weg durch längst erstarrte, dunkle Lavafelder und über karge, steingespickte Wiesen den schneebedeckten Berggipfeln entgegen.
Er brauchte drei Stunden, um das Gefühlschaos in seinem Innern zu ordnen. Die menschliche Seite übernahm wieder die Führung und liess ihn klar denken. Es war zwecklos, nach Fionn zu suchen. Heiðar musste davon ausgehen, dass sein Vater keinen festen Wohnsitz hatte und in keinem Adressverzeichnis registriert
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