Silberstern Sternentaenzers Sohn 04 - Familiengeheimnisse
will meine Mutter kennenlernen“, erklärte sie mit fester Stimme.
Die Äbtissin war wie immer in ihre schwarze Ordenstracht mit Schleier gekleidet und saß hinter ihrem Schreibtisch. Sie lächelte gütig. „Ich weiß. Deswegen bist du hier.“
Deswegen sind wir hier!, korrigierte Annit in Gedanken. Mein wunderschöner, lieber Silberstern und ich sowie mein bester Freund Mannito und dessen Pferd, die Fuchsstute Ranja.
„Wie ich dir ja gesagt habe, wird dich deine Mutter besuchen. Sie weiß, dass du hier bist“, fuhr die Igoumeni fort.
„Und wann soll das sein?“, drängelte Annit ungeduldig.
Der Ton der Äbtissin wurde eine Spur strenger. „Sobald der Zeitpunkt richtig ist.“
Annit holte tief Luft. „Dann fahre ich eben zu ihr.“
Die Äbtissin schüttelte energisch den Kopf. „Auf gar keinen Fall, Annit! Elena lebt in der Türkei, in Ostanatolien. Das ist sehr weit weg. Wie willst du alleine als Mädchen ohne Auto da hinkommen? Nein, Annit, das geht nicht!“ Ihre Stimme klang leicht ungehalten.
„Aber ...“, protestierte Annit.
„Das verbiete ich dir.“ Die Igoumeni klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch.
Annit war klar, dass die Äbtissin es ernst meinte. Aber mindestens ebenso klar war für Annit, dass sie es tun würde. Dass sie in die Türkei fahren würde.
Die Igoumeni stand auf und legte die Hand auf Annits Schulter. Es war eine Berührung so sacht und leicht, als säße ein Vogel auf ihrer Schulter. „Glaub mir, eine Reise dorthin ist viel zu beschwerlich und gefährlich.“ Damit schien für die Äbtissin die Unterhaltung beendet, denn sie machte Anstalten, ihr Büro zu verlassen.
Ostanatolien, überlegte Annit fieberhaft. Sie wusste zwar überhaupt nicht, wo das lag. Dennoch war ihr klar, dass diese Ortsangabe auf keinen Fall genügen würde. Ich muss mehr rauskriegen, beschloss sie. „Aber du kannst mir doch wenigstens erzählen, wie meine Mutter lebt. Wohnt sie in einer großen Stadt in Ostanatolien?“
Ein feines Lächeln umspielte die Lippen der Äbtissin. „Ostanatolien ist sehr dünn besiedelt, es gibt dort nur ganz wenige Städte. Elena wohnt in einem sehr kleinen Dorf namens Dedeli in der Nähe des Van-Sees. Es ist eine ziem lich arme Gegend.“
„Warum wohnt meine Mutter in einer armen Gegend in der Türkei und nicht hier in Griechenland wie du?“
Das Gesicht der Igoumeni verfinsterte sich für einen Moment. „Darüber möchte ich jetzt nicht reden.“
„Aber warum denn nicht? Ist das ein Geheimnis, oder was?“, bohrte Annit dennoch nach.
Die Äbtissin schwieg. Aber Annit erkannte, dass sie nervös war, denn sie knetete unablässig ihre Hände.
„Warum gibst du mir denn keine Antwort?“, fragte Annit verzweifelt.
Als die Äbtissin weiter beharrlich schwieg, legte Annit mit der nächsten Frage nach. „Warst du schon mal dort? Hast du sie besucht?“
„Nein“, antwortete die Igoumeni nur. Und wieder verdüsterten sich ihre gütigen Augen kurz.
„Warum nicht?“, wollte Annit wissen, obwohl sie genau spürte, dass die Äbtissin nicht darüber sprechen wollte.
Tatsächlich fasste die Igoumeni Annit an der Schulter und schob sie sanft aus dem Raum. „Und nun muss ich dringend was in der Küche erledigen“, sagte sie nur und ging.
Annit schnaufte tief durch und folgte ihr langsam. In ihrem Kopf war nur noch Platz für drei Worte: Ostanatolien, Van-See, Dedeli. Annit war so in Gedanken versunken, dass sie auf dem Flur beinahe mit Mannito zusammengestoßen wäre.
„Annit?“
Annit schaute auf und direkt in Mannitos braune Augen. Erst kürzlich waren ihr die dunklen Flecken darin aufgefallen. Und was besonders ungewöhnlich war: Wenn er sich aufregte oder wütend wurde, färbten sich seine Augen komplett dunkelbraun. Mannito stammte aus einem kleinen Ort in Rumänien, dem Karpatendorf Kischila.
Annit hatte den jungen Rumänen mit den blonden, meist etwas zerzausten Haaren in Warschau kennengelernt, als sie noch mit Roccos Zirkus unterwegs gewesen war. Sie hatte Mannito auf Anhieb gemocht, und inzwischen war er wie ein Bruder für sie geworden. Außerdem begleitete er sie zusammen mit Ranja, seiner schönen braunen Fuchsstute, auf der Suche nach ihren Eltern. Dafür war Annit ihm zutiefst dankbar.
„Mannito.“
„Du hast so einen merkwürdigen Blick in deinen Augen“, stellte er gleich fest.
Annit musste lächeln. Mannito kannte sie zwar noch nicht so lange, aber dafür schon ziemlich gut.
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