Silenus: Thriller (German Edition)
schien, wie es auf ein Geräusch im Regen oder im Wind zu reagieren schien, und an seinen Verdacht, dass es ganz sein wollte.
»Gut«, beschloss Silenus. »So ist es am besten.« Er zog seine Uhr hervor und sah nach, wie spät es war. »Colette dürfte bald kommen. Stan, kannst du sie an meiner Stelle am Bahnhof abholen?«
Stanley nickte, stand auf und ging hinaus, doch unterwegs sah er sich noch einmal zu George um. Dann waren George und sein Vater unter sich.
»Es tut mir leid«, sagte George.
»Was?«, fragte Silenus.
»Was ich zuletzt zu dir gesagt habe. Ich fühle mich scheußlich, dass ich so etwas gesagt habe, und dann musstest du kommen und … und opfern, was du für mich geopfert hast.«
»Mach dir keine Gedanken«, beruhigte ihn Silenus und legte eine Hand auf Georges Knie. »Ich war nie besonders gut darin, anderen Leuten Grund zu geben, mich gernzuhaben. Und außerdem bist du nur wegen dem, was ich verbockt habe, in Gefahr geraten. Ich hätte Kingsley besser im Auge behalten sollen. Ich hätte erkennen müssen, dass er dabei war, draufzugehen.«
»Trotzdem danke, dass du gekommen bist.«
»Du musst mir, verdammt noch mal, auch nicht danken. Ich habe nur mein Versprechen erfüllt. Ich habe dir gesagt, ich würde mein Bestes tun, um dich zu schützen, solange ich kann, nicht wahr?«
George nickte und lehnte sich zurück. Er war sehr schläfrig. »Vater?«
Silenus zuckte ein wenig zusammen, und George erkannte, dass der Begriff ihm immer noch Unbehagen bereitete. »Ja?«
»Was weißt du noch von meiner Mutter?«
Silenus saß ganz still da und dachte nach. Die Kerzenflamme flackerte, als hätte ein Luftzug sie erwischt. »Nicht genug«, sagte er endlich.
George schloss die Augen. Das war die enttäuschendste Antwort, die er sich vorstellen konnte.
»Ich wünschte, ich könnte mich besser erinnern. Um deinetwillen, George«, sagte sein Vater. »Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte dir den Vater und das Leben bieten, das du verdient hast. Ein normales Leben. Das tue ich wirklich. Wenn ich einfach mit den Fingern schnipsen und uns allen das Leben schenken könnte, das wir uns wünschen, dann würde ich es tun, George. Vielleicht können wir eines Tages auf die Irrungen und Wirrungen unseres Lebens zurückblicken und herausfinden, warum die Dinge sind, wie sie sind. Aber bis zu diesem Tag habe ich dir nicht mehr zu bieten als Entschuldigungen.«
George lächelte schwach. »Du könntest einfach die Weise ändern und alles in Ordnung bringen.«
Silenus nickte, als hätte er verstanden, dass George nur einen Scherz gemacht hatte, doch in seinen Augen lag eine wilde Glut. »Das könnte ich, ja.«
»Hast du je daran gedacht, es zu tun? Mir kommt die Versuchung beinahe zu groß vor.«
Lange, lange Zeit schwieg sein Vater. »Ja«, sagte er dann mit leiser Stimme. »Ja, ich habe daran gedacht. Wer hätte das nicht? Ich habe daran gedacht, sie dazu zu benutzen, um Unrecht wieder gutzumachen oder … oder geliebte Menschen zurückzuholen.«
»Was hat dich abgehalten?«
Seine Antwort war simpel: »Stanley.«
»Was?«, fragte George. »Wie?«
Silenus sah ihn an und wirkte überrascht, beinahe, als hätte er etwas vergessen. »Nun … Stanley fungiert gewissermaßen als mein Gewissen. Er hält mich im Zaum und auf Kurs. Jeder muss irgendwie im Zaum gehalten werden. Aber ich gebe zu, da ist vielleicht noch mehr als nur Stanley«, räumte Silenus ein. »Ich habe so viel Zeit mit der Suche nach der Weise verbracht, George … Die Vorstellung, sie zu benutzen, erschreckt mich. Und wie schwer ein Verlust auch wiegt, irgendwann schwindet er im Vergleich mit der Mission und ich kann mir nicht vorstellen, was mich veranlassen könnte, eben das wegzuwerfen, das ich mit solcher Leidenschaft verfolge, nur um ein Unrecht zu korrigieren, das im Nachhinein so geringfügig erscheint. Ich weiß nicht, ob mich das zu einem besseren oder zu einem schlechteren Menschen macht. Aber was ist das auch für eine Welt, deren Reparatur eben das zerstört, was sie zusammenhält?«
Als er dies sagte, erinnerte sich George daran, was der Wolf in Rot ihm über die veränderte Vorgehensweise der Truppe erzählt hatte: Es war, als reisten sie nur, um die Weise zu suchen, nicht, um sie zu singen. Er wollte seinen Vater danach fragen, wollte hören, wie er den Gedanken mit spöttischem Gelächter zurückwies … aber ein winziges Stückchen seiner selbst fragte sich, ob es womöglich doch wahr sein könnte, und wenn es so
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