Silenus: Thriller (German Edition)
er trug einen komischen roten Mantel und einen schwarzen Hut, an dessen Krempe eine große Feder befestigt war. Als sich ihre Blicke trafen, salutierte er verhalten, und George erwiderte die Geste.
»Warte«, sagte Colette. »Ist das …«
»Ja«, bestätigte George vergnügt.
»Aber … aber was tut der hier?«, rief sie. »Ich dachte, du hättest eine Vereinbarung getroffen, um sie alle fernzuhalten!«
»Das habe ich«, erklärte er. »Aber ich habe sie nicht alle gezwungen, wieder Wölfe zu sein. Einige wollten dort weg. Also ließ ich sie Menschen bleiben.«
Sie brach in Gelächter aus. »Wirklich? Warum?«
»Sagen wir, ihre Begeisterung für das Leben als Menschen war ansteckend«, sagte er. »Und ich dachte, sie würden vielleicht recht gute Menschen abgeben.«
George zog die Hände aus den Taschen, und sie ergriff eine, und sie gingen Hand in Hand die Straße hinunter. »Was willst du von jetzt an tun?«
»Was ich immer getan habe. Auftreten.«
Er nickte und lächelte kläglich. »Wird die Welt die Prinzessin der Kushsteppen je anerkennen?«
»Nein«, sagte sie. »Diese Nummer bin ich leid. Ich glaube, ich lasse mir etwas Neues einfallen. Irgendwo, weit weg. Aber ich werde nicht den Zug nehmen, weißt du?«
»So?«
Sie deutete voraus. Auf dem Stadtplatz stand ein schmales, ganz in Grün gekleidetes Mädchen. Es lächelte George zu und winkte, und als es das tat, erbebten die Bäume an der Ecke, als hätte eine sanfte Brise sie gestreift.
»Ah«, machte er und blieb stehen. »Wo bringt sie dich hin?«
»Weit weg«, sagte Colette. »Weit, weit, weit weg von der Provinz. Ich will eine größere Bühne, George. Ein größeres Publikum, eine größere Nummer. Aber ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Warum nicht?«
»Na ja, du hattest bereits die allergrößte Bühne, nicht wahr?«, sagte sie. »Du hast für das allergrößte Publikum gespielt. Mit dir werde ich nie mithalten können, George Carole. Wenn es je einen wahrhaft großen Künstler gegeben hat, bist du es.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Auf Wiedersehen, George. Ich wünsche dir Glück, aber ich glaube, das wirst du so oder so finden.«
»Meinst du?«, fragte er.
»Oh ja«, nickte sie. »Weißt du, ich glaube, wenn deine Freundin mich fortgebracht hat, wird sie wieder herkommen. Vielleicht solltest du dich mal mit ihr unterhalten. Ihr habt eine Menge gemeinsam.«
»Wirklich?«
»Ja«, erwiderte sie. »Vertrau mir einfach in diesem Punkt.« Dann schnappte sich Colette ihren Koffer und ging zu dem Mädchen in Grün. Das Mädchen musterte George eingehend und winkte erneut, und Colette sah sich mit einem vage zärtlichen Lächeln zu ihm um. George, der plötzlich furchtbar traurig und glücklich zugleich war, winkte beiden zu und grinste.
Colette blickte auf. Der Himmel war grau und kündete von einem bevorstehenden Frühlingsregen. Dann lebte der Wind auf und verteilte ein paar Regentropfen. George musste seinen Hut festhalten und das Gesicht von der Brise abwenden, und als er sich wieder umschaute, waren die beiden fort.
38
DIE SÄNGER
George Caroles Rückkehr nach Rinton blieb noch Jahre nach seinem unerwarteten Erscheinen in der Stadt ein aufregendes Gesprächsthema der örtlichen Gesellschaft. Wo war er gewesen, fragten die Leute? Er wirkte so anders als der Junge, den sie in Erinnerung hatten. War er, wie viele spekulierten, fort gewesen, um dem Glücksspiel zu frönen oder sich in den Städten im Norden noch schlimmeren Dingen hinzugeben, und nur zurückgekehrt, weil ihm das Geld ausgegangen war? Doch wenn sich diese Theorie auch großer Beliebtheit erfreute, schien sie dennoch falsch zu sein, denn George erwarb bald ein sehr hübsches Haus am Ortsrand, nicht weit von dem seiner Großmutter entfernt. Außerdem sollte man annehmen, dass ein junger Mann, der sich solcher Verwahrlosung hingegeben hatte, nicht so freundlich empfangen worden wäre wie George von seiner Großmutter. Die ganze Stadt hatte am Tag seiner Rückkehr fest damit gerechnet, ihr Gebrüll über die Felder hallen zu hören, doch sie hatten ihre Nachbarn damit überrascht, am Abend besonnen und in aller Seelenruhe gemeinsam auf der Veranda zu sitzen. Und wenn Mrs Carole auch zu weinen schien, lächelte sie doch trotz ihrer Tränen.
Vielleicht, so sagte manch kundiger Bewohner der Stadt, hatte George Carole bei seinen Spielchen einen ordentlichen Gewinn eingestrichen und sich dabei zugleich viele Feinde gemacht, was ihn
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