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Silo: Roman (German Edition)

Silo: Roman (German Edition)

Titel: Silo: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Howey
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Leder.
Artefakte, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, ein
Augenzwinkern ihrer Vorfahren, harmlose Gegenstände wie die Kinderbücher oder
Holzschnitzereien, die den Aufstand und die Säuberung überlebt hatten. Diese
Dinge waren wie Schlüssel zu einer anderen Welt, zu einer Welt, in der es auch
oberirdisch noch Gebäude gegeben hatte, jene Ruinen, die nun hinter den grauen,
leblosen Hügeln zu sehen waren.
    Nach gründlicher
Überlegung nahm Mayor Jahns ein Paar Nadeln aus dem Etui. Bei der Auswahl war
sie immer besonders sorgfältig, denn auf das richtige Maß kam es an. Mit zu
dünnen Nadeln war das Stricken schwierig, der fertige Pullover wurde zu eng und
straff. Mit zu dicken Nadeln bekam das Kleidungsstück Löcher. Das Gestrick
wurde zu locker, man konnte hindurchgucken.
    Sie hatte gewählt,
die hölzernen Knochen aus dem Lederetui gezogen, und griff jetzt nach dem
Knäuel Baumwollgarn. Kaum zu glauben, dass ihre Hände aus diesem Klumpen
ineinander verdrehter Fasern etwas Ordentliches und Nützliches würden herstellen
können. Sie suchte den Anfang des Fadens und dachte darüber nach, wie die Dinge
entstanden. Im Moment war ihr Pullover lediglich eine Idee. Früher einmal
hatten die Baumwollknospen an einem Strauch auf der Farm geblüht, dann waren
sie geerntet, gereinigt und zu langen Fäden gesponnen worden. Und wenn man noch
weiterging, konnte man sogar die Baumwollpflanze zurückverfolgen bis hin zu den
verstorbenen Silobewohnern, deren Körper in der Erde zur Ruhe gebettet worden
waren und den Pflanzen als Nährstoff dienten.
    Jahns schüttelte den
Kopf über ihre zunehmend morbiden Gedanken. Je älter sie wurde, desto mehr
dachte sie über den Tod nach.
    Gewohnt sorgfältig
schlang sie das Ende des Garns um eine Nadel und spannte mit den Fingern ein
Dreieck auf. Die Spitze der Nadel tanzte durch dieses Dreieck und nahm Maschen
auf. Das war ihr Lieblingsmoment beim Stricken: das Aufnehmen der Maschen. Sie
mochte Anfänge. Die erste Reihe. Aus Nichts wurde Etwas . Ihre
Hände wussten, was sie taten, und so konnte Jahns aufblicken und zuschauen, wie
der morgendliche Wind ein paar Staubwölkchen den Hügel hinuntertrieb. Die
Wolken hingen heute unheilvoll niedrig. Sie schwebten wie besorgte Eltern über
den umherwehenden Staubwölkchen, die wie lachende Kinder durcheinanderpurzelten
und den Hügeln und Senken bis zu der großen Falte folgten, wo zwei Hügel sich
zu einem vereinten. Hier sah Jahns die Staubwölkchen auf zwei Leichen prallen – die übermütigen Staubzwillinge wurden zu Gespenstern, die spielenden Kinder zu
Traumbildern und Nebelschleiern.
    Mayor Jahns lehnte
sich auf ihrem verblichenen Plastikstuhl zurück. Ihre Hände verarbeiteten das
Garn zu Reihen, sie musste nur gelegentlich einen Blick darauf werfen. Immer
wieder flog der Staub auf die Sensoren des Silos zu, und jedes Mal zuckte sie
zusammen, als würde es sie körperlich treffen. Der Schmutz auf den Sensoren war
immer unangenehm anzusehen, aber am Tag nach der Reinigung wirkten die
Staubkörnchen besonders brutal.
    »Ma’am?«
    Mayor Jahns wandte
sich vom Anblick der toten Hügel ab, auf dem ihr eben verstorbener Polizeichef
lag. Neben ihr stand Deputy Marnes.
    »Ja, Marnes?«
    »Hier sind die
Akten.«
    Marnes legte drei
Akten auf den Tisch in der Kantine, wo noch die Krümel und Saftflecken von den
Feierlichkeiten der vergangenen Nacht zu sehen waren. Jahns legte ihr
Strickzeug beiseite und griff widerwillig nach den Akten. Am liebsten wäre sie
einfach noch eine Weile allein gewesen und hätte zugesehen, wie aus den Maschen
und Reihen ein Pullover entstand. Sie wollte die Ruhe und den Frieden dieses
unverdorbenen Sonnenaufgangs genießen, bevor der Staub ihn wieder trübte, bevor
der Rest des oberen Silos aufwachte, sich den Schlaf aus den Augen rieb und den
Schmutz vom Gewissen schüttelte und zu ihr heraufkam.
    Aber die Pflicht
rief, sie war die gewählte Bürgermeisterin, und der Silo brauchte einen neuen Polizeichef.
Also stellte Jahns ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen hintan und nahm die
Akten auf den Schoß. Sie strich über das Papier und betrachtete ihre Hände mit
einer Mischung aus Schmerz und Resignation. Ihre Handrücken wirkten so trocken
und runzlig wie das Textilpapier, das aus den Akten heraushing. Sie sah Deputy
Marnes an, in dessen weißem Schnurrbart noch einige wenige schwarze Flecken zu
sehen waren, und erinnerte sich an die Zeit, als die Farbverteilung umgekehrt
gewesen war. An

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