Silo: Roman (German Edition)
Bewerbungsgespräch in deinem Büro
abhalten, wie immer. Das ist ein langer Weg bis zu ihr nach unten und noch
länger wieder hoch.«
»Ich weiß deine
Sorge zu schätzen, Deputy, wirklich. Aber ich bin schon lange nicht mehr viel
weiter gekommen als bis in die Vierziger. Meine Knie sind keine Entschuldigung
dafür, dass ich mein Volk nicht sehe.«
Die Bürgermeisterin
hielt inne. Der Staubtornado bewegte sich weiterhin genau auf sie zu. Er wuchs
und wuchs – die Weitwinkellinsen ließen ihn viel größer und stärker erscheinen,
als er war, das wusste sie –, dann fegte er über sämtliche Sensoren hinweg und
tauchte die Kantine kurz in Dunkelheit. Als er sich von den Monitoren
zurückzog, war der Blick auf die Welt schon wieder von einem leicht
schmuddeligen Film überzogen.
»Scheißwind«,
knurrte Deputy Marnes. Das alte Leder seines Holsters knarzte, als er die Hand
auf den Kolben seiner Pistole legte, und Jahns stellte sich den Deputy in
dieser Landschaft da draußen vor, wie er auf seinen dünnen Beinen einem Tornado
hinterherjagte und seine Kugeln in die Staubwolke schoss.
Die beiden schwiegen
einen Augenblick und betrachteten den Schaden. Schließlich sprach Jahns.
»Bei der Reise geht
es nicht um die Wahl, Marnes. Soweit ich weiß, gibt es auch diesmal keine
Gegenkandidaten. Wir machen kein großes Trara, wir gehen einfach nur runter,
ganz unauffällig. Ich möchte meine Leute sehen, gar nicht unbedingt selbst
gesehen werden.« Sie merkte, dass er sie genau beobachtete. »Eine persönliche
Sache, Marnes. Ich muss mal raus.«
Sie sah wieder auf
den Monitor.
»Manchmal … manchmal glaube ich, ich war zu lange hier oben. Wir beide. Ich glaube, wir
sind überhaupt schon zu lange dabei.«
Auf der
morgendlichen Wendeltreppe waren Schritte zu hören. Jahns hielt inne, und sie
horchten beide auf die Geräusche des Lebens, eines erwachenden Tages. Und sie
wusste, dass es Zeit war, die vielen toten Dinge aus dem Kopf zu bekommen. Oder
sie zumindest für eine Weile zu verdrängen.
»Wir gehen hinunter
und schauen uns diese Juliette einmal gründlich an, du und ich. Denn manchmal,
wenn ich hier sitze und hinausgucke und sehe, wozu diese Welt uns treibt – das
versetzt mir einen Stich, Marnes. Einen Stich mit einer sehr langen Nadel.«
* * *
Sie
trafen sich nach dem Frühstück in Holstons altem Büro. Jahns sah es auch an
diesem Tag noch als das Zimmer des verstorbenen Sheriffs an, es war zu früh, um
den Raum von seiner Person zu lösen. Sie stand hinter den beiden Schreibtischen
und den alten Aktenschränken und schaute in die leere Arrestzelle, während
Deputy Marnes letzte Instruktionen an Terry gab, einen stämmigen
Sicherheitsmann aus der IT, der schon oft die
Stellung gehalten hatte, wenn Marnes und Holston unterwegs gewesen waren.
Hinter Terry stand pflichtbewusst ein Teenager namens Marcha, ein junges Mädchen
mit dunklem Haar und glänzenden Augen, das in der IT lernte. Sie war Terrys Schatten – ungefähr der halbe
Silo hatte einen. Die Schatten waren zwischen zwölf und zwanzig Jahre alt, sie
waren wie allgegenwärtige Schwämme, die von ihren Schattenspendern das Wissen
und die Techniken aufsaugten, mit denen der Silo zumindest für die nächste
Generation noch am Laufen gehalten werden würde.
Deputy Marnes
erinnerte Terry noch einmal daran, wie asozial die Leute sich am Tag nach der
Reinigung gelegentlich verhielten. Wenn die Anspannung nachließ, machten die
Silobewohner gern einen drauf. Die meisten waren zu jung, um sich noch an die
letzte Zweifachreinigung zu erinnern, und jetzt glaubten sie, zumindest für ein
paar Monate, dass es vielleicht doch einmal passieren könnte.
Die Warnung war kaum
nötig – der Lärm im Nebenraum war trotz geschlossener Tür kaum zu überhören.
Die meisten Bewohner der oberen vierzig Stockwerke drängten sich bereits in die
Kantine und den Aufenthaltsraum. Hunderte aus den mittleren und unteren
Stockwerken würden im Laufe des Tages noch nach oben kommen, sie würden sich
freinehmen und ihre Urlaubswertmarken einreichen, nur um die klare Aussicht zu
sehen. Für viele war es die reinste Pilgerreise, manche kamen nur alle paar
Jahre mal nach oben, standen eine Stunde lang herum und murmelten, dass es
immer noch genauso aussehe, wie sie es von früher in Erinnerung hatten, und
dann scheuchten sie ihre Kinder vor sich her wieder die Treppe hinunter, gegen
den Strom der nach oben drängenden Menge.
Terry wurde mit dem
Schlüssel und einem
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