Silo: Roman (German Edition)
Übergangsabzeichen zurückgelassen. Marnes überprüfte die
Batterien in seinem Funkgerät, stellte die Lautstärke am Bürogerät hoch und
inspizierte seine Dienstwaffe. Er reichte Terry die Hand und wünschte ihm viel
Glück. Jahns spürte, dass es Zeit war zu gehen, und wandte sich von der leeren
Zelle ab. Sie verabschiedete sich von Terry, nickte Marcha zu und folgte Marnes
aus der Tür.
»Ist es okay für
dich, das Büro so kurz nach der Reinigung zu verlassen?«, fragte sie, als sie
in die Kantine traten. Sie wusste, dass später am Abend noch deutlich mehr los
sein würde und wie reizbar die Menge sein konnte. Es war kein guter Zeitpunkt,
um den Deputy wegen einer eigentlich egoistischen Aktion hier wegzuzerren.
»Sehr witzig. Ich brauche
die Auszeit. Ich muss selbst hier weg.« Er schaute in Richtung der Monitore,
die von der Menge verdeckt waren. »Ich kann mir immer noch nicht vorstellen,
was Holston sich gedacht hat und warum er nie mit mir darüber gesprochen hat,
was in seinem Kopf vorging. Wenn wir zurückkommen, spüre ich ihn vielleicht
nicht mehr so sehr im Büro, aber im Moment kriege ich da drinnen keine Luft.«
Jahns dachte darüber
nach, als sie sich durch die überfüllte Kantine kämpften. Aus Plastikbechern
spritzten verschiedene Fruchtsäfte, sie roch Schwarzgebrannten, ignorierte das
aber. Die Nachricht von ihrer Reise hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet,
obwohl sie kaum jemandem davon erzählt hatte. Die meisten Leute dachten, ihr
Ausflug sei eine Wahlkampagne. Die jüngeren Silobewohner, die nur Holston als
Sheriff kannten, salutierten Marnes und sprachen ihn mit dem neuen Titel an.
Wer schon Falten um die Augen hatte, wusste es besser. Die Leute nickten den
beiden zu, als sie die Kantine durchquerten, sie versprachen, Jahns wiederzuwählen,
und gaben den beiden alle erdenklichen guten Wünsche mit auf den Weg. Haltet
den Laden am Laufen , sagten ihre Augen. Sorgt dafür, dass meine Kinder
so lange leben wie ich. Lasst es noch nicht enden, noch nicht jetzt.
Jahns lebte unter
diesem Druck, einer Last, die nicht nur für ihre Knie zu viel war. Auf dem Weg
zur Treppe blieb sie stumm. Ein paar Leute riefen, sie solle eine Rede halten,
aber das waren nur einzelne Stimmen, die sich nicht durchsetzen konnten. Es
wurde kein Sprechchor daraus, sehr zu ihrer Erleichterung. Was hätte sie auch
sagen sollen? Dass sie auch nicht wusste, was ihre Welt zusammenhielt? Dass sie
nicht mal ihr eigenes Strickzeug verstand und warum es mit der richtigen
Schlingentechnik einfach funktionierte? Sollte sie ihnen sagen, dass es nur
einen winzigen Schnitt brauchte, um alles aufzutrennen? Ein Schnitt, und dann
konnte man ziehen und ziehen, und aus dem Kleidungsstück würde wieder ein
chaotischer Haufen Garn werden. Erwarteten sie wirklich von ihr, dass sie den Silo
verstand? In Wahrheit befolgte auch sie nur die Regeln, es funktionierte
einfach weiter, Jahr um Jahr um Jahr.
Sie verstand die
Stimmung nicht, diese Feier. Tranken und grölten die Leute, weil sie in
Sicherheit waren? Weil das Schicksal sie verschont hatte, weil sie selbst nicht
zur Reinigung hinausmussten? Ihr Volk feierte, während ein guter Mann, ihr
Freund, ihr Partner im Bemühen, sie alle gesund und munter zu erhalten, tot auf
einem Hügel neben seiner Frau lag. Wenn sie eine Rede hätte halten müssen, die
nicht gegen alle Regeln verstieß, dann vielleicht so: dass sich niemals zwei
bessere Menschen aus freien Stücken zur Reinigung gemeldet hatten, und was das
eigentlich über die Übrigen aussagte.
Aber jetzt war nicht
die Zeit für große Reden. Oder fürs Trinken. Fürs Fröhlichsein. Jetzt war die
Zeit für stilles Nachdenken, was einer der Gründe war, warum Jahns diese Reise
unternahm. Die Dinge hatten sich geändert. Nicht von heute auf morgen, sondern
im Laufe der Jahre. Das wusste sie besser als die meisten anderen. Vielleicht
wusste die alte Lady McNeil unten in der Versorgung es auch, vielleicht sah
auch sie kommen, was mit dem Silo passieren würde. Man musste lange leben, um
eine Ahnung zu bekommen, aber jetzt war es soweit. Die Zeit verging, und ihre
Welt drehte sich immer schneller, und Mayor Jahns wusste, dass sie bald nicht
mehr mitkommen würde. Und ihre große Sorge, unausgesprochen, aber täglich
empfunden, war, dass die Welt im Silo ohne sie nicht mehr besonders weit
vorankommen würde.
9. KAPITEL
Jahns’
Spazierstock macht auf jeder Metallstufe ein Geräusch. Es wurde zum Metronom
ihres Abstiegs, zur Musik
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