Silo: Roman (German Edition)
die Zeit, als seine große, schlanke Gestalt Kraft und Jugend
ausgestrahlt hatte statt hagerer Zerbrechlichkeit. Marnes sah immer noch gut
aus, aber nur weil sie ihn schon so lange kannte, nur weil ihre alten Augen
sich noch erinnerten.
»Weißt du«, sagte
sie, »wir könnten es diesmal auch anders machen. Ich befördere dich zum
Sheriff, und du suchst dir einen Deputy, das wäre doch vernünftig.«
Marnes lachte. »Ich
bin schon fast so lange Deputy wie du Mayor. Ich habe nicht die Absicht, noch
mal was anderes zu machen, außer vielleicht, dass ich irgendwann ganz gern tot
umfallen würde.«
Jahns nickte. Sie
hatte Marnes unter anderem deswegen so gern um sich, weil seine Gedanken so
rabenschwarz waren, dass ihre dagegen bestenfalls gräulich schimmerten. »Ich
fürchte, da brauchen wir beide nicht mehr lange«, sagte sie.
»Wohl wahr. Ich
hätte nie gedacht, dass ich so viele Leute überleben würde. Und ganz bestimmt
werde ich nicht länger dabeibleiben als du.« Marnes rieb sich den Schnurrbart
und sah über die Monitore nach draußen. Jahns lächelte ihn an, schlug die
oberste Akte auf und las die erste Biografie.
»Das sind drei
akzeptable Kandidaten«, sagte Marnes. »Ich könnte mit allen gut
zusammenarbeiten. Meine erste Wahl wäre Juliette, ich glaube, das ist die in
der Mitte. Arbeitet unten in der Mechanik. Sie kommt nicht oft hier rauf, aber
ich und Holston …«
Marnes brach ab und
räusperte sich. Jahns sah, dass sein Blick zu dem dunklen Fleck auf dem Hügel
gewandert war. Er hielt sich die Faust mit hervortretenden Knöcheln vor den
Mund und täuschte ein Husten vor.
»Entschuldigung«,
sagte er. »Wie gesagt, der Sheriff und ich, wir haben vor ein paar Jahren einen
Todesfall da unten untersucht. Diese Juliette – ich glaube, sie will Jules
genannt werden –, die war toll. Blitzgescheit. Eine Riesenhilfe bei dem Fall,
guter Blick für Details, kann mit Leuten umgehen, ist diplomatisch,
unbestechlich, all das. Ich glaube nicht, dass sie oft höher als bis in die
Achtziger kommt. Ist auf jeden Fall eine von ganz unten, das hatten wir lange
nicht.«
Jahns blätterte
durch Juliettes Akte, sah sich ihren Stammbaum sowie ihr aktuelles Gehalt an.
Sie war Vorarbeiterin und hatte gute Beurteilungen. Keine Historie in der
Lotterie.
»War sie nie
verheiratet?«, fragte Jahns.
»Nein. An der ist
ein Junge verloren gegangen, die ist Mechanikerin durch und durch. Wir waren
eine Woche da unten und haben gesehen, wie die Typen auf sie stehen. Sie
bräuchte sich bloß einen auszusuchen, tut sie aber nicht. Irgendwie macht sie
Eindruck, aber sie bleibt lieber für sich.«
»Auf dich hat sie ja
offensichtlich auch Eindruck gemacht«, sagte Jahns und bereute es sofort. Sie
konnte ihren eifersüchtigen Unterton nicht leiden.
Marnes verlagerte
das Gewicht auf den anderen Fuß. »Na, du kennst mich ja, Mayor. Ich halte immer
Ausschau nach geeigneten Kandidaten. Damit ich nicht am Ende noch selbst
befördert werde.«
Jahns lächelte. »Was
ist mit den beiden anderen?« Sie las die Namen und überlegte, ob jemand von
ganz unten wirklich eine gute Idee war. Vielleicht hatte sie auch Sorge, dass
Marnes sich ernsthaft in diese Juliette verguckt hatte. Den Namen auf der
obersten Akte kannte sie. Peter Billings. Er arbeitete ein paar Stockwerke
weiter unten in der Justiz, als Schatten eines Richters.
»Ganz ehrlich,
Ma’am? Die sind nur Füllmaterial, damit es fair aussieht. Wie gesagt, ich würde
auch mit den anderen arbeiten, aber ich glaube, Jules ist unser Mädchen. Ist
schon lange her, dass eine Frau Polizeichef war. Würde bestimmt gut ankommen,
so kurz vor der Wahl.«
»Das ist kein
Kriterium«, sagte Jahns. »Für wen wir uns auch entscheiden, er oder sie wird
wahrscheinlich noch hier sein, wenn wir schon lange nicht mehr sind.« Dann
unterbrach sie sich, weil ihr einfiel, dass sie dasselbe über Holston gesagt
hatte, als er zum Sheriff ernannt worden war.
Jahns schloss die
Akte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Am Fuße des Hügels hatte sich ein
kleiner Tornado gebildet, ein geordneter Wirbel aus Staub. Die kleine Wolke
nahm Fahrt auf und wuchs zu einem größeren Kegel an, der sich drehte und
drehte, auf seiner schlingernden Spitze tanzte wie ein Kind und dabei im matten
Licht der aufgehenden Sonne auf die Linsen zuraste.
»Ich finde, wir
sollten ihr einen Besuch abstatten«, sagte Jahns schließlich.
»Ma’am? Lass sie uns
doch lieber hier oben treffen. Wir können das
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