Silo: Roman (German Edition)
wiederholte sie das Ganze noch
einmal.
Luft.
Unter Wasser
blinzelte sie die Tränen der Erschöpfung, der Frustration, der Erleichterung
weg. Sie spähte das gewundene Labyrinth der Stahlstufen hinauf. Wo die
gefangene Luft durch die Drehungen der Treppe verwirbelt wurde, waberten die
Blasen wie weiche Spiegel. Das musste nun ihr Pfad sein. Sie stieß sich ab,
flog ein paar Stufen auf einmal hinauf, zog sich dann Hand für Hand weiter und
saugte die winzigen Bläschen an den Unterseiten der Stufen auf. Sie dankte
ihrem Schicksal für die engen Schweißnähte, mit denen die genoppten Stufen vor
vielen Hundert Jahren miteinander verbunden worden waren. Ihre Lippen strichen
über jede Stufe, sie schmeckte Metall und Rost und küsste die rettende Luft.
* * *
Die
grünen Notlampen um sie herum leuchteten gleichmäßig. Juliette sah also nicht,
wie die Treppenabsätze an ihr vorbeiglitten. Sie konzentrierte sich darauf, mit
jedem Atemzug fünf Stufen auf einmal zu nehmen, sechs Stufen, danach eine lange
Strecke ganz ohne Luft. Dann wieder ein Mundvoll Wasser, wo die Bläschen zu
dünn zum Atmen waren. Ihre ganze Konzentration lag darauf, gegen das zerrende
Gewicht ihres Overalls und der baumelnden Werkzeuge anzuschwimmen. Kein Gedanke
daran, anzuhalten und alles abzuschneiden. Nur abstoßen und hochziehen, Hand
über Hand, zu den Unterseiten der Stufen, dann ein tiefer, gleichmäßiger
Atemzug. Nicht in Richtung der Stufen darüber ausatmen! Ganz ruhig! Noch fünf
Stufen! Es war wie ein Spiel, fünf Stufen auf einmal. Nicht schummeln!
Dann ein fauliges
Brennen an ihren Lippen, der Geschmack von Wasser, das immer giftiger wurde.
Ihr Kopf stieß gegen die Unterseite einer Stufe und schob sich dann durch einen
Film aus Benzingestank und schleimigem Öl.
Juliette blies den
letzten Atemzug aus und hustete, sie wischte sich das Gesicht ab, ihr Kopf hing
noch immer unterhalb der nächsten Stufe. Sie japste und lachte und stieß sich
ab, schlug sich den Kopf an der scharfen Stahlkante an. Sie war frei. Sie
tauchte kurz noch einmal unter, um das Geländer zu umschwimmen. Ihre Augen
brannten von den Öl- und Benzinlachen an der Oberfläche. Sie planschte laut
herum, rief nach Solo und schleppte sich bis auf die andere Seite des
Handlaufs. Mit ihren wattierten und zitternden Knien fand sie endlich die
Stufen.
Sie hatte überlebt.
Sie klammerte sich an die trockene Stufe, schnappte keuchend nach Luft. Ihre
Beine waren taub. Sie hätte gern hinausgeschrien, dass sie es geschafft hatte,
brachte aber nur ein Wimmern zustande. Sie fror, ihr war eiskalt. Mit
zitternden Armen zog sie sich die Treppe hinauf in die Stille – da war kein
knatternder Kompressor, keine Arme, die sich ihr helfend entgegenstreckten.
»Solo?«
Sie krabbelte das
halbe Dutzend Stufen zum Treppenabsatz hinauf und ließ sich auf den Rücken
fallen. Wasser floss aus ihrem Anzug, tropfte am Hals hinab, sammelte sich
unter ihrem Kopf, lief ihr in die Ohren. Sie drehte den Kopf – sie musste
diesen eisigen Overall ausziehen –, und dann sah sie Solo.
Mit geschlossenen
Augen lag er auf der Seite. Blut rann ihm übers Gesicht, teilweise war es schon
angetrocknet.
»Solo?«
Als sie ihn
schüttelte, verschwamm ihre Hand vor ihren Augen. Was hatte er nun wieder
angestellt?
»He! Wach auf,
verflucht!«
Ihre Zähne
klapperten. Sie packte ihn an der Schulter und schüttelte kräftig. »Solo! Ich
brauche Hilfe!«
Ein Auge öffnete
sich einen Spalt, er blinzelte ein paarmal, dann krümmte er sich zusammen und
hustete, Blut tropfte von seinem Gesicht auf den Boden.
»Hilf mir!«, sagte
sie. Sie tastete nach dem Reißverschluss auf ihrem Rücken. Dass Solo derjenige
war, der ihre Hilfe brauchte, nahm sie nicht wahr.
Solo hustete in
seine vorgehaltene Hand, drehte sich weg und legte sich wieder auf den Rücken.
Aus einem Loch im Kopf blutete er noch immer, frische Tropfen liefen über die
bereits geronnenen Stellen.
»Solo?«
Er stöhnte. Juliette
kroch näher zu ihm, sie konnte ihren Körper kaum noch spüren. Er murmelte
etwas, ein fast lautloses Krächzen.
»Solo!« Sie schob
ihr Gesicht vor seines. Ihre Lippen waren geschwollen und taub, sie hatte noch
immer Benzingeschmack im Mund.
»… heiße ich nicht …«
Er hustete etwas
Blut. Seine Hand hob sich ein paar Zentimeter vom Boden, sie schaffte es aber
nicht bis zu seinem Mund.
»… heiße gar nicht
Solo«, wiederholte er. Sein Kopf rollte von einer Seite zur anderen. Juliette
bemerkte endlich,
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