Silo: Roman (German Edition)
gehen
soll. Man befürchtet, dass sich kleine Zellen Überlebender irgendwo auf der
Erdkugel verschanzt haben könnten. Die Operation 50 ist vollkommen sinnlos,
wenn da draußen auch nur einer überlebt. Die Bevölkerung muss homogen sein.«
»Der Mann, mit dem
ich gesprochen habe, hat gesagt, wir wären alle. Die fünfzig Silos.«
»Siebenundvierzig.
Und wahrscheinlich gibt es außer uns ja auch wirklich niemanden mehr. Aber
möglich ist eben alles. Es ist ja erst ein paar Hundert Jahre her.«
»Ein paar Hundert
Jahre! Dann haben wir also vor Jahrhunderten beschlossen …«
» Sie .«
Bernard füllte das dampfende Wasser in seinen Becher. » Sie haben es beschlossen.
Da musst du dich nicht mit dazuzählen. Und mich ganz bestimmt auch nicht.«
»Gut, sie haben beschlossen, die Welt zu zerstören. Aber warum?«
Bernard stellte
seinen Becher auf den Kocher, damit der Tee ziehen konnte. Er nahm die Brille
ab, rieb den Dampf von den Gläsern und deutete mit ihr auf das Studierzimmer
und die Wand mit den riesigen Bücherregalen. »Wegen der düsteren Kapitel in
unserer Vergangenheit. Darum. Zumindest glaube ich, dass sie das sagen würden,
wenn sie noch am Leben wären.« Er senkte die Stimme.
»Aber das sind sie
ja Gott sei Dank nicht.«
Lukas schauderte. Er
konnte noch immer nicht glauben, dass jemand eine derartige Entscheidung
treffen konnte, ungeachtet der Umstände, unter denen man lebte. Er dachte an
die Milliarden Menschen, die damals, vor gerade einmal ein paar Hundert Jahren,
unter dem Sternenhimmel gelebt hatten. Niemand konnte so viele Menschen töten.
Wie konnten jemandem so viele Leben egal sein?
»Und nun arbeiten
wir für sie .« Lukas spuckte ein Teeblatt aus. »Sie haben gesagt, dass
wir nicht dazugehören, aber in Wahrheit sind wir doch ein Teil von diesem
ganzen Plan.«
»Nein.« Bernard ging
vom Kocher zu der kleinen Weltkarte, die über der Essnische hing. »Wir haben
nichts mit dem zu tun, was diese Irren angestellt haben. Wären diese Typen, die
Männer, die das getan haben, mit mir in einem Raum, dann würde ich sie töten
bis auf den letzten Mann.« Er schlug auf die Karte. »Ich würde sie mit bloßen
Händen erwürgen!«
Lukas sagte nichts,
er regte sich nicht.
»Sie haben uns keine
Chance gegeben.« Bernard umfasste den Raum mit einer Armbewegung. »Der Silo ist
ein Gefängnis. Das sind Käfige, keine Wohnungen. Diese ganze Anlage soll uns
nicht schützen, sondern dazu zwingen, dass wir ihre Vision umsetzen.«
»Was für eine
Vision?«
»Die Vision einer
Welt, in der wir alle zu eng miteinander verbunden sind, um unsere Zeit mit
Kämpfen zu verschwenden. Eine Welt, in der wir unsere begrenzten Ressourcen
nicht mehr damit vergeuden, dass wir um ebendiese Ressourcen zu kämpfen
beginnen.« Er hob den Becher und schlürfte laut. »Das ist zumindest meine
Theorie, die ich mir in jahrzehntelanger Lektüre zurechtgelegt habe. Die Leute,
die für die Silos verantwortlich sind, haben über ein mächtiges Land regiert,
das zu verfallen begann. Sie haben das Ende absehen können, ihr Ende, und es
muss ihnen eine Mordsangst eingejagt haben. Während die Zeit ablief – vergiss
nicht, dass es Jahrzehnte gedauert haben muss –, sind sie zu dem Schluss
gekommen, dass sie nur eine einzige Chance hätten, um sich selbst und ihren
Lebensstil zu retten. Und bevor die einzige Gelegenheit verstrich, haben sie
ihren Plan in die Tat umgesetzt.«
»Ohne dass jemand
Bescheid wusste? Wie das?«
»Wer weiß?
Vielleicht wollte niemand glauben, dass etwas Derartiges passieren könnte. Sie
haben in den Fabriken Dinge gebaut, die größer waren als alles, was man sich
vorstellen kann, und trotzdem hat niemand etwas davon mitbekommen. Sie haben
Bomben gebaut, die, wie ich vermute, bei all dem eine Rolle gespielt haben. Und
keiner hat etwas gewusst. Im Vermächtnis gibt es Geschichten über Menschen, die
vor langer Zeit in einem Land gelebt haben, in dem es erhabene Könige gegeben
hat – ein König ist wie ein Mayor, nur mit mehr Untertanen. Wenn diese Könige
gestorben sind, wurden raffinierte unterirdische Kammern gebaut und mit
Schätzen angefüllt. Hunderte Männer haben am Bau mitarbeiten müssen, und
trotzdem haben sie die Lage der Kammern geheimhalten können. Und weißt du,
wie?«
Lukas hob die
Schultern. »Indem sie den Arbeitern eine Menge Wertmarken bezahlt haben?«
Bernard lachte. Er
schnippte sich ein hängen gebliebenes Teeblatt von der Zunge. »Wertmarken gab
es damals nicht. Nein, sie
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