Silvermind (German Edition)
wollte nicht zugeben, wie viel Angst es ihm machte, Neo in dem Bett liegen zu sehen, aschfahl, drogensüchtig. Wut war die beste Methode, keine anderen Gefühle an sich heranzulassen, weil sie alle anderen verdrängte, kaputtmachte.
„Das habe ich an dir gehasst, Nero. Keiner konnte dir je das Wasser reichen, du warst immer erhaben über alles. Zugegeben, du bist das größte Arschloch, das ich kenne.“ Nero stand vor Neos Krankenbett, die Hände an dem Fußende abgestützt, den Kiefer angespannt. Lydia wartete mit Georg im Krankenhausflur. Die beiden waren vor ihm bei Neo gewesen.
„Ich will wissen, warum du dich kaputtmachst. Welchen Anlass hast du dafür?“, knurrte er Neo an. Der starrte mit leeren Augen an die Decke.
„Kannst du mir auch antworten?“, meinte Nero genervt.
„Ich sage dir nichts, Nero. Es gibt Dinge, die dich nichts angehen.“
„Schön. Aber ich sage dir, wehe dem, du versuchst es noch ein einziges Mal. Dann reiße ich dir persönlich den Hintern auf, haben wir uns verstanden?“
„Wie du meinst.“
Die gleichgültige Antwort seines Bruders brachte Nero auf die Palme. Bevor er jedoch ernsthaft handgreiflich wurde und Neo anfing an den Schultern zu schütteln, beschloss er, das Zimmer zu verlassen. Mit einem Fluch verabschiedete er sich von Neo und trat hinaus in den Gang. Seine Eltern standen Arm in Arm an einem Fenster, die Gesichter besorgt. Nero fuhr sich durch die Haare.
„Er zeigt keine Einsicht. Wir können nur hoffen, dass er es unterlässt“, meinte er frustriert. Die Sache mit Neo kratzt wirklich an ihm. Die letzten Tage waren ohnehin nicht die besten gewesen und Neo setzte weiterhin alles aufs Spiel. Er verstand es nicht, konnte es nicht verstehen, wieso sein Bruder den übermäßig starken Drang hatte, zu sterben. Sie hatten keine schlechte Kindheit gehabt, nichts, was Nero als Anlass hätte betrachten können. Irgendetwas war ihm die Jahre über entgangen, aber er wusste nicht was. Eine gravierende Sache hatte er übersehen.
„Bleibt ihr oder kommt ihr nach Hause?“, richtete Nero an seine Eltern.
„Wir bleiben ein wenig“, meinte sein Vater mit einem ernsten Nicken. Nero verstand. Sie wollten Neo nicht alleine lassen.
„Gut. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen. Wir sehen uns später.“ Mit einem kurzen Wangenkuss von seiner Mutter verabschiedete er sich und ging zum Parkplatz. Dass die halbe Tour abgesagt worden war, hatte ihm eine Menge Ärger beschert, den er wieder richten musste. Nero hatte keine Lust auf das Gespräch mit Sven, dem Manager, weil er wusste, dass er sich nicht würde zusammenreißen können. Momentan war Nero aggressiv, sehr schnell auf hundertachtzig, und überhaupt nicht in der Lage, vernünftig mit seinen Mitmenschen umzugehen. Es gab eine Sache, die ihn seit geraumer Zeit belastete.
Als Nero im Auto saß, gönnte er sich einen Moment Ruhe. Er wollte nicht gleich losfahren, sich dem nächsten Problem stellen. Nero musste erst runterkommen. Mit dem Kopf an die Stütze gelehnt starrte er aus der Windschutzscheibe. Seine Gedanken holten ihn schneller ein als gewollt, die Erinnerungen an die Tour, an … Ray.
Ihm hätte die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen werden müssen. Das, was er sich geleistet hatte, war nicht nur verletzend und demütigend gewesen, es war grundlegend falsch. Er hatte Ray nie etwas Böses gewollt, aber an dem Tag war er ausgerastet, hatte nach einer Kleinigkeit gesucht, die er als Anlass nehmen konnte, endgültig einen Bruch zwischen sie zu bringen. Die Brutalität seiner Worte war grausame Absicht gewesen. Nach der Nacht hatte Nero Gefühle gehabt, die ihm Angst machten. Die Veränderung zwischen dem Kleinen und ihm war ihm bereits während der Konzerte, den Stunden danach und Fahrten über bewusst geworden. Er wollte es nicht, wollte sich nicht angezogen fühlen, das Verlangen verspüren, Ray anfassen zu müssen, in dessen Nähe zu sein. Der Sex war ein Fehler gewesen, weil der das hatte eintreten lassen, was Nero hatte verhindern wollen. Er kannte den leisen Schmerz, den er im Herzen spürte, aus früheren Zeiten, kannte die Gedanken, die ihn martervoll wachbleiben ließen. Der Kleine trieb ihn dazu, sein Verhalten zu bereuen, sich wünschen zu lassen, die Zeit zurückdrehen zu können. Aber Nero war machtlos. Die Verbindung, welche zwischen ihnen bestanden hatte, war von ihm zerstört worden.
Bedauern, das verspürte er Stunde um Stunde. Er hatte Ray von sich gestoßen, weil er sich die
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