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Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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entfernte und mit drei
dickleibigen Nachschlagewerken zurückkehrte –
Fahrplänen für die verschiedenen Regionalzüge.
»Ich fürchte, Zeppelin-Flüge nach Klamowka gibt es
erst morgen wieder; allerdings können Sie, soweit ich
weiß, bis heute Abend auch mit dem Zug dort sein, wenn Sie bald
aufbrechen.«
    »Wunderbar«, erwiderte Martin, an dem das Gefühl
nagte, er könne den Empfangschef nur mit einem beglücken:
der sofortigen Abreise. Oder allenfalls noch damit, vor dessen Augen
auf der Stelle tot umzufallen. »Ich bin in fünf Minuten
wieder unten. Könnte Ihr Gehilfe sich bitte um meine Fahrkarte
kümmern? Jetzt sofort.«
    Der Empfangschef nickte mit unbewegter Miene. »Im Namen des
Hotels wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche Reise«,
sülzte er. »Marcus, kümmern Sie sich um den
Herrn.« Mit diesen Worten stolzierte er davon.
    Der Angestellte schlug das erste voluminöse Werk auf und
bedachte Martin mit einem vorsichtigen Blick. »Welche Klasse,
Sir?«
    »Die Erste.« Wenn es eines gab, das Martin
frühzeitig begriffen hatte, dann war es dies: Die Neue Republik
hatte einige recht merkwürdige Vorstellungen von Klassen. Er
überlegte. »Ich muss vor sechs Uhr abends ankommen. In
fünf Minuten bin ich zurück. Wenn Sie so gut wären,
meinen Reiseplan bis dahin auszuarbeiten…«
    »Ja, Sir.« Er ließ den Angestellten über
Fahrplan und Ortsverzeichnis schwitzend zurück und stieg die
vier Treppen zu seinem Stockwerk hoch.
    Sobald er – gefolgt von einem Diener, der in jeder Hand eine
Reisetasche trug – zur Rezeption zurückgekehrt war,
geleitete ihn der Angestellte nach draußen. »Ihre
Reiseunterlagen, Sir.« Martin steckte das mit Schnörkeln
versehene Dokument, das genauso kompliziert aussah wie ein Reisepass,
in die Tasche, stieg in die wartende Dampfkutsche und erwiderte die
Verbeugung des Angestellten mit einem Nicken. Gleich darauf machte
sich die Kutsche schnaufend auf den Weg zum Bahnhof.
    Es war ein so feuchter, nebliger Morgen, dass Martin von den
Fenstern der Kutsche aus kaum die Zierfassaden der
Verwaltungsgebäude erkennen konnte, die an ihm vorbeizogen.
    Zwar gab es in den Hotelzimmern keine Telefone –
elektronische Vernetzungen, intelligente Systeme und viele andere
technologische Errungenschaften, die das Leben erleichtert
hätten, waren verboten –, und das Klassensystem
ähnelte demjenigen, das im achtzehnten Jahrhundert auf der Erde
geherrscht hatte, dennoch konnte sich die Neue Republik eines zugute
halten: Die Züge fuhren hier pünktlich.
    PS 1347, der Hauptstern, um den Neu-Moskau kreiste, war ein junger
G2-Zwerg der dritten Generation, der sich vor weniger als zwei
Milliarden Jahren (im Unterschied zu den fünf Milliarden der
Sonne) gebildet hatte. Daher enthielt die Planetenkruste von
Neu-Moskau Uranerz, das so aktiv war, dass es den kritischen Zustand
aufrechterhalten konnte, ohne sich anzureichern.
    Die Kutsche fuhr auf dem mit Marmor gekachelten Bahnsteig vor, an
dem bereits der Eilzug wartete, dessen Strecke quer über die
Halbinsel verlief. Während Martin mit steifen Gliedern aus der
Kutsche stieg, blickte er nach rechts und links: Sie waren auf dem
Marmorboden so weit vorgefahren, dass die ungeschlachten Lokomotiven
etwa zweihundertundfünfzig Meter hinter ihnen lagen, aber noch
fast tausend Meter sie vom trostlosen Zugende trennten. Dort befanden
sich die Wagen vierter Klasse und der Postwaggon. Der Chefsteward
– in seinem flaschengrünen, mit Goldtressen besetzten
Gehrock ein prächtiger Anblick – inspizierte Martins
Reiseunterlagen und führte ihn danach in ein Einzelabteil auf
dem Oberdeck. Der Raum prangte in blauem Leder und alter, mit
Messing- und Goldblättern eingefasster Eiche und war
außerdem mit einem Marmortisch ausgestattet. Mittels eines
Klingelzugs konnte man die dienstbereiten Geister jederzeit rufen.
Insgesamt ähnelte das Abteil eher dem Rauchsalon eines Hotels
als irgendeiner Einrichtung, die Martin mit dem öffentlichen
Verkehr in Verbindung gebracht hätte.
    Sobald der Chefsteward gegangen war, ließ sich Martin in
einen der üppig gepolsterten Sitze sinken, zog die Vorhänge
zur Seite, sodass er einen freien Blick auf die bogenförmigen
Verstrebungen und das geschwungene Dach des Bahnhofgebäudes
hatte, und schaltete den Lesemodus seines Notebooks ein. Kurz darauf
ging ein leichtes Beben durch den Zug, und er fuhr an. Während
er aus dem Bahnhof glitt, sah Martin aus dem Fenster, unfähig,
den Blick abzuwenden.
    Die Stadt Neu-Prag war

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