Singularität
Kilometer? Vielleicht mehr?« Es sah leicht
verwirrt aus, als wäre die Vorstellung von Entfernung etwas sehr
Schwieriges und Abstraktes.
»Heute Morgen hast du sechzig Kilometer gesagt«, wandte
Burija ein. »Und jetzt haben wir schon zwanzig Kilometer hinter
uns. Bist du sicher? Die Miliz traut dir nicht. Und wenn du
ständig etwas anderes behauptest, kann ich sie vielleicht nicht
davon abhalten, etwas Dummes zu tun.«
»Bin nur ein Kaninchen.« Die Ohren zuckten nach hinten
und lauschten nach jeder Seite auf mögliche Bedrohungen.
»Weiß, wo Herr ist, wo Herr war, beim Angriff der
Possenreißer. Hab seitdem nicht viel von ihm gehört, das
kannst du mir glauben. Weiß immer, wo er ist, weiß auch
nicht wie – aber kann nicht sagen, wie weit er entfernt ist. Als
hätte ich verdammten Kompass im Kopf, verstehst du,
Kamerad?«
»Wie lange bist du schon ein Kaninchen?« Rubenstein kam
ein schrecklicher Verdacht.
»Weiß nicht recht«, erwiderte das Kaninchen
verwirrt. »Glaube, war früher mal…« Es ließ
den Satz in der Luft hängen und machte die Schotten dicht.
»Nicht mehr reden, müssen Herrn finden, ihn
retten!«
»Wer ist dein Herr?«
»Felix.«
»Felix… Politowski?«
»Weiß nicht. Kann sein.« Das Kaninchen
legte die Ohren zurück und bleckte die Zähne. »Will
nicht reden. Morgen wir da. Retten Herrn. Töten
Possenreißer.«
Wassily sah auf die Sterne hinunter, die unter seinen
Füßen herumwirbelten. Ich werde sterben, dachte er
und würgte bittere Galle. Als er die Augen schloss, legte sich
die Übelkeit ein wenig. Sein Kopf schmerzte immer noch an der
Stelle, an der er sich auf dem Weg nach draußen an der
Kabinenwand gestoßen hatte. Eine Weile war alles vor seinen
Augen verschwommen, und er war desorientiert auf einer Wolke von
Schmerzen dahingetrieben. Jetzt, da er Zeit zum Nachdenken hatte, kam
ihm der Schmerz wie eine Ironie des Schicksals vor. Leichen hatten
doch keine Schmerzen, oder? Der Schmerz verriet ihm, dass er noch am
Leben war. Wenn dieser Schmerz aufhörte…
Er durchlebte die Katastrophe wieder und wieder. Erinnerte sich
daran, wie Sauer überprüft hatte, ob alle Schutzanzüge
trugen. »Nur ein winziges Loch«, hatte jemand gesagt, und
es war ihm so plausibel vorgekommen. Sicher hatte die Frau nur ein
wenig Luft aus der Kabine entweichen lassen, um die Sperren
auszulösen, die bei Druckabfall zur Sicherheit niedergingen. Und
dann hatte der grelle Blitz der Sprengung ihm die Wahrheit verraten.
Der brüllende Mahlstrom hatte nach ihnen gegriffen und den
Leutnant und den Obermaat regelrecht aus dem Schiff gezerrt, hinein
in den dunklen Tunnel voller Sterne. Wassily hatte noch versucht, den
Griff einer Schutztür zu packen, aber die unbeholfenen
Hände, die in Fäustlingen steckten, hatten nicht richtig
greifen können. Und so war er, sich ständig
überschlagend, ins Nichts getaumelt – wie eine im Strudel
gefangene Spinne, die im abfließenden Badewasser untergeht.
Ringsum wirbelten Sterne, die kalten Lichter der Nacht da
draußen stachen wie Dolche in seine Lider. Ich bin
geliefert. Ich werde tatsächlich sterben. Die Spionin nicht
verhaften können. Niemals meinem Vater begegnen. Ihm nie sagen
können, was ich wirklich von ihm halte. Was wird der BÜRGER
von mir denken?
Als Wassily die Augen aufschlug, wirbelte er immer noch um die
eigene Achse. Er nahm an, dass er sich fünf- oder sechsmal pro
Minute drehte. Der Schutzanzug war nicht mit Schubkraft ausgestattet
und sein Funkgerät armselig, es reichte nur ein paar hundert
Meter weit – mehr als genug für die Nutzung an Bord,
vielleicht auch ausreichend, um jemanden auf sich aufmerksam zu
machen, falls ein Suchtrupp unterwegs war. Aber bisher war niemand
aufgetaucht. Er kam sich wie ein Kreisel vor. Alle paar Minuten trieb
das Schiff kurz in sein Blickfeld, ein kleiner Splitter, der sich
dunkel vom himmlischen Sternenstaub abhob. Kein Anzeichen dafür,
dass jemand ihn suchte. Rings um das Schiff nur goldener Nebel: das
Abwasser. Das Schiff war schon mehr als einen Kilometer entfernt
gewesen, als er es überhaupt gesichtet hatte. Es sah wie ein
Spielzeug aus, ein ungeheuer begehrenswertes Spielzeug, eines, an dem
er all seine Hoffnungen auf Leben, Liebe, Kameradschaft, Wärme
und Glück festmachen konnte. Ein Spielzeug, das immer und ewig
außerhalb seiner Reichweite bleiben würde, weil es in der
eiskalten Leere trieb, die er nicht überbrücken konnte.
Er blickte auf das grobe Display auf dem linken Handgelenk:
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