Singularität
dich eingesperrt hatten.«
»Du bist ein Goldschatz«, rief er glücklich. Er
beugte sich vor und fischte in dem beengten Raum unter der
Steuerkonsole herum. »Ach, du meine Güte…«
Während er sich aufrichtete, schlug er das lädierte graue
Buch auf. Wörter und Abbildungen huschten über das Display.
Als er eine imaginäre Tastatur bediente, waberten neue Bilder
über den Schirm. »Kann ich dir irgendwie helfen, dieses
Boot zu lenken?«, fragte er.
»Wenn du möchtest.« Rachel trank die zweite
Saftpackung aus und warf die beiden geleerten Behälter in den
Abfallbeutel. »Ja, kannst du, wenn du möchtest. Bist du
schon mal selbst geflogen?«
»Hab zwölf Jahre bei L 5 verbracht. Die grundlegende
Navigation ist kein Problem für mich. Falls ein normales
Versorgungsmodul vorhanden ist, kann ich auch die Kombüse
programmieren. In Yorkshire lernt man aus alter Tradition, wie man Black Pudding in der Schwerelosigkeit zubereitet. Der Trick
liegt dabei darin, dass sich das Schiff um die Kombüse drehen
muss, damit die Blutwurst ruhig liegen bleibt, während der Grill
rotiert.«
Sie kicherte, als ein Päckchen Preiselbeersaft von seinem
Kopf abprallte. »Jetzt reicht’s aber!«
»Alles klar.« Er beugte sich zu dem Notebook vor, das
vor ihm trieb. Die offenen Seiten zeigten die vom Gehirn des
Rettungsbootes übermittelten Realzeit-Daten. In einer Ecke lief
der Countdown der Sekunden bis zur Bremszündung, die Rachel als
Erstes einprogrammiert hatte: noch zweitausend Sekunden, bis sie in
Planetennähe gelangen würden. Mit gerunzelter Stirn
kritzelte er irgendwelche Hieroglyphen. »Eigentlich müssten
wir es schaffen. Vorausgesetzt, die schießen nicht auf
uns.«
»Wir haben einen Rote-Kreuz-Transponder. Sie müssten ihr
IFF, das Radarsystem, das uns als neutrale Macht identifiziert und
den Abschuss blockiert, schon von Hand umprogrammieren.«
»Was sie nicht tun werden, wenn sie nicht unbedingt
müssen. Gut.« Martin gab einen letzten Passus auf der Seite
ein. »Allerdings wäre mir wohler, wenn ich wüsste, in
was wir da hineinfliegen. Ich meine, wenn das Festival in der
Umlaufbahn für eine Tabula rasa gesorgt hat…«
Bei dieser Vorstellung erstarrten beide.
Irgendetwas kratzte oben an der Rettungskapsel. Es klang so, als
ob hohle Knochen aus Stahl über Käfiggestänge
rasselten.
Das Kaninchen knurrte böse und schulterte wütend sein
Maschinengewehr. Mit zurückgelegten Ohren und gebleckten
Zähnen zischte es den Cyborg an.
Siebente Schwester setzte sich auf und beobachtete diese Begegnung
der feindseligen Art. Bis auf Burija, der in die Mitte der Lichtung
vortrat, duckten sich alle anderen. »Sofort
aufhören!«
Eine Weile stand das Kaninchen wie angewurzelt da. Dann lockerte
sich seine steife Haltung, und es senkte das Gewehr. »Er hat
angefangen.«
»Mir ist völlig egal, wer angefangen hat. Wir haben was
zu erledigen, und es bringt überhaupt nichts, aufeinander zu
schießen.« Burija drehte sich zu dem Cyborg um, den das
Kaninchen gestellt hatte. »Was hast du gesagt?«
Der weibliche Cyborg, eine Revolutionärin, sah so aus, als
schämte sie sich. Langsam zog sie ihre voll ausgefahrenen Klauen
wieder ein. »Ist kein guter Extropianer. Dieses Geschöpf… «, sie deutete auf das Kaninchen, das
sofort wieder die Zähne bleckte, »… ist Anhänger
von Personenkult. Ist konterrevolutionärer Dissident.
Müssen Upload von Gehirn veranlassen, sofort!«
Burija kniff die Augen zusammen. Inzwischen waren viele der
früheren Revolutionäre aufgrund der persönlichen
Zusatzausrüstungen, die das Festival ihnen gewährt hatte,
völlig neben der Spur. Ihnen war nicht klar, dass sich ihr
zentrales Nervensystem erst einmal auf die Aufrüstungen
einstellen musste, was zu einem gewissen Grad von Desorientierung
führte. »Aber Genossin, du selbst bist doch auch eine
Persönlichkeit«, sagte Burija. »Ein Gespür
für die eigene Identität ist eine notwendige Voraussetzung
dafür, Bewusstsein zu entwickeln. Und das wiederum ist, wie die
großen Führer und Lehrer aufgezeigt haben, das Fundament,
auf dem das Potenzial zur Transzendenz beruht.«
Der Cyborg wirkte verwirrt. Mit Spiegeln überzogene
Häutchen legten sich kurz über die Augäpfel und
reflektierten die innersten Gedanken. »Aber innerhalb
Gesellschaft des Geistes existiert einzelne Persönlichkeit
nicht. Gesellschaft entwickelt Persönlichkeit, Individuum kann
kein…«
»Ich glaube, du hast die großen Philosophen falsch
verstanden«,
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