Sinnliche Maskerade
keine, die ich preisgeben möchte.«
»Und was hat es mit diesem geheimnisvollen Band auf sich?«, wollte Lady Maude wissen. »Dieser wertvolle Chaucer, der nicht länger zur Bibliothek gehört. Sie haben diesem Mr. Murdock erzählt, dass Sir Arthur ihn seiner Tochter überlassen hat. Aber sein Testament sagt nichts über eine solche Zuwendung. Sie haben ihn gestohlen.«
Alexandra schüttelte heftig den Kopf, spürte aber auch, wie das Schuldbewusstsein ihr die Röte in die Wangen trieb.
»Nein, das stimmt nicht, Ma’am. Ich habe nichts gestohlen.«
»Wo steckt dann der vermisste Band?«, wollte Sir Stephen wissen. »Wenn Sie es mir nicht verraten können, dann bleibt mir keine Wahl, als zu vermuten, dass Sie ein Stück von unschätzbarem Wert aus dem Anwesen gestohlen haben. Als Friedensrichter muss ich Sie dann wegen Diebstahls festnehmen. Sie wer-den in das Gefängnis von Shire Hall überstellt, wo Sie auf das Schwurgericht zu warten haben, welches alle drei Monate tagt. In einer Woche ist es wieder so weit. Wir werden einen Richter entscheiden lassen, wie mit Ihnen zu verfahren ist.«
Er machte eine Handbewegung in Richtung seiner Frau.
»Wir wollen gehen, Lady Douglas.« Er schob die Lady vor sich aus dem Zimmer. Alex hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde ... sie war gefangen.
Ihre Gedanken überstürzten sich. Nur zu gut wusste sie, dass sie, sobald sie in eine Gefängniszelle unter Shire Hall eingesperrt wurde, aller Voraussicht nach wie vom Erdboden verschluckt wäre. Sie wäre nichts anderes als ein menschliches Treibgut, das mit einem Machthaber in diesem Land kollidiert war. Niemand würde wissen, wo nach ihr gesucht werden sollte.
Wenn sie Perry doch nur eine Nachricht schicken könnte ... aber würde er zu ihr kommen? Nachdem sie ihn ohne ein persönliches Wort verlassen hatte ... würde er sich die Mühe machen, zu ihr zu eilen?
Aber selbst wenn sie ihn erreichen konnte, und selbst wenn er zu ihr kam, lag der Fall so, dass sie die gegen sie erhobenen Anschuldigungen unmöglich widerlegen konnte. Schließlich hatten sie Mr. Murdocks Brief. Mit Sicherheit hatte sie eine falsche Erklärung abgegeben, warum das Buch sich nicht in der Sammlung befand, und mehr würde das Gericht gar nicht wissen wollen. Es gab kein rechtskräftiges Dokument, welches besagte, dass Sir Arthur ihr den Chaucer hinterlassen hatte. Mehr Beweise brauchte das Gericht nicht, um sie an den Galgen zu bringen. Ein kalter Schauder rann ihr über den Rücken. Würde sie wirklich am Strick enden?
Die schrecklichen Tatsachen ließen sich nicht leugnen. Üblicherweise wurde Diebstahl mit Tod durch Erhängen bestraft -wie oft hatte Perry sie darauf hingewiesen. Selbst wenn sie nur ein kleines Stückchen Brot stahl, steckte ihr Hals schon in der Schlinge. Sofern sie nicht beweisen konnte, dass der Band tatsächlich ihr gehörte, hatte sie sich des Diebstahls schuldig gemacht. Und dann konnte noch nicht einmal mehr der Honorable Peregrine Sullivan etwas für sie ausrichten.
Alexandra saß allein in ihrer Schlafkammer, wartete auf den Büttel und kämpfte gegen die aufwallende Verzweiflung. Ob es ihr wohl gelingen würde, Sylvia zu schreiben, bevor sie abgeholt wurde? Aber kaum war ihr die Idee gekommen, verwarf sie sie auch schon wieder. Keinesfalls durfte Sylvia in die Sache hineingezogen werden.
Was würde sie in ihre Gefängniszelle wohl mitnehmen dürfen? Geld. Ja, sie hatte ein wenig Geld; es würde ihr den steinigen Pfad vielleicht ein wenig leichter machen und bestimmt auch helfen, sich etwas zu essen zu kaufen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gefangene im Gefängnis ernährt wurden, und verstaute die Geldbörse mit ein paar Münzen unten in ihrer Tasche. Für eine Augenblick verschaffte die Vorsorge ihr das Gefühl, die Lage besser unter Kontrolle zu haben, aber schon Sekunden später schwappte die grausame Wirklichkeit wieder über sie, und sie ließ sich aufs Bett sinken.
Oh, du lieber Himmel, was war das nur für ein Albtraum! Wie hatte es nur geschehen können, dass sie sich vom Gipfel der Glückseligkeit in die tiefsten Abgründe der Hölle gestürzt hatte, und das auch noch innerhalb weniger Tage?
Der Schlüssel wurde umgedreht, die Tür geöffnet. Der Büttel stand dort mit Sir Stephen.
»Dann kommen Sie mal mit, Mistress.« Der Gesetzesdiener deutete mit einer Geste auf seine Hilfskräfte. »Sie lassen sich widerstandslos abführen?«
»Ja, selbstverständlich«, bekräftigte Alexandra
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